Die geschützten Männer
Namen des Betreffenden. Dr. Martinelli … Dr. Martinelli … Dr. Martinelli
… Ich stehe auf. Dave sieht mich ängstlich an. Ich lächle ihm beruhigend zu, tätschele sein Genick und schlängle mich, mein
mageres Steak zurücklassend, zwischen den Tischen zum Ausgang durch. Dr. Martinelli … Dr. Martinelli … Dr. Martinelli … Die
Stimme tönt laut, und in dem langen, kahlen Korridor eilt mir ihr Echo von Lautsprecher zu Lautsprecher voraus: eine eindringliche
und ziemlich unheimliche Litanei, als riefe mich der HERR vor sein Gericht, damit ich mich für meine Sünden verantworte. Dr.
Martinelli … Dr. Martinelli … Dr. Martinelli … Diese von oben herabdröhnende jenseitige Stimme muß im ganzen Schloß widerhallen.
Sie würde mich verfolgen, wohin ich mich auch flüchten wollte, in die Bibliothek, in die Salons, in den Swimmingpool, in die
unterirdische Turnhalle.
In Blueville ist es immer schwieriger geworden, telefonisch mit der Außenwelt in Verbindung zu treten. Man muß am Tag davor
einen schriftlichen Antrag an Mr. Barrow richten, und meistens bekommt man am nächsten Morgen Bescheid, daß sich unter der
gewünschten Nummer niemand gemeldet hat. Ob es stimmt oder nicht – man hat keine Möglichkeit, es zu überprüfen. Abgesehen
von mir (Anitas Anrufe, in denen sie ihre Besuche absagte), ist hier seit gut vier Monaten niemand ans Telefon geholt worden.
Dr. Martinelli … Dr. Martinelli … Dr. Martinelli … Das hört gar nicht auf. Das Echo meines Namens wird so lange in dem riesigen
Gebäude widerhallen, bis ich an Ort und Stelle bin. Mich überkommt das deprimierende Gefühl, verfolgt zu werden.
Die zwei öffentlichen – jetzt fast überflüssigen – Telefonapparate befinden sich in einem kleinen Vorraum der Toiletten. Keine
Kabinen, sondern einfach zwei Platzmuscheln. Ich stecke den Kopf in die erste und nehme den Hörer ab.
»Ja, Dr. Martinelli.«
»Dr. Martinelli«, sagt die Stimme der Telefonistin, »würden Sie sich unverzüglich in Mr. Barrows Büro begeben?«
|204| Warum unverzüglich? Und warum läßt mich Mr. Barrow mitten beim Essen holen? Was hat er mir so Dringendes zu sagen?
Ich brauche nicht an Mr. Barrows Tür zu klopfen. Sie steht offen. Und erstaunlicherweise wartet er stehend auf mich, auf der
Schwelle seiner Tür: er, der es genießt, in Glanz und Glorie hinter dem Schreibtisch zu thronen, wenn er jemand empfängt.
Er ist ein wenig zurückgetreten, und ich sehe zunächst nur seinen Schmerbauch, der in den Korridor hineinragt. Ich beschleunige
meinen Schritt, und Mr. Barrows Gesicht taucht auf. Er ist aufgelöst, sofern man das von einer klebrigen Fettmasse überhaupt
sagen kann. Aber ich sehe deutlich: seine Wangen zittern. Wortlos, als ob er seiner Stimme nicht mächtig wäre, macht er mir
Platz, damit ich vorbeikomme. Doch er geht nicht etwa in sein Büro, wie zu erwarten wäre, sondern tritt in den Korridor heraus,
so daß ich mich nach Betreten des Büros halb umdrehe – in der Annahme, er werde mir folgen. Aber nichts dergleichen geschieht.
»Dr. Martinelli«, sagt er mit kaum hörbarer Stimme.
Ich sehe ihn an. Seine Knopfaugen rollen hin und her wie zwei in Panik geratene kleine Tiere, und der Schweiß rinnt über seinen
glänzenden Schädel.
»Dr. Martinelli«, stammelt er atemlos und undeutlich. »Der Hörer liegt auf meinem Schreibtisch. Es ist vertraulich. Ich lasse
Sie allein.«
Und er schließt die Tür hinter mir. Ich bin allein! In Mr. Barrows Büro! Im Allerheiligsten! Das er niemals verläßt, ohne
es doppelt zu verschließen, und dessen Schlösser so kompliziert sind wie die eines Tresors. Leider Gottes bin ich nicht Joan
Pierce: ich habe keine so starken Nerven wie sie. Ich werfe mechanisch einen Blick auf den Papierkorb: er ist leer. In Wirklichkeit
erinnere ich mich an diesen Blick erst später. Im Augenblick bin ich mir dessen nicht einmal bewußt. Mr. Barrows Schrecken
hat mich angesteckt. Das Herz hämmert mir gegen die Brust. Ich bin von dem Hörer gebannt, der, wie von Barrow angekündigt,
auf dem riesigen Mahagonischreibtisch liegt. Ich trete näher, nehme ihn in die Hand. Er ist noch ganz klebrig von Mr. Barrows
Schweiß, und ich fühle mich so angewidert, daß ich mir die Zeit nehme, ihn mit meinem Taschentuch abzuwischen, bevor ich ihn
ans Ohr halte.
|205| »Ja, Dr. Martinelli.«
»Einen Augenblick, Doktor«, sagt die Stimme der Telefonistin. »Ich rufe Ihren
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