Die geschützten Männer
feindseliges Schweigen ein.
»Weiter, Doktor«, sagt sie, sichtlich bemüht, den militärischen Ton wiederzufinden. »Wir haben einen langen Weg vor uns.«
Dieser »lange Weg« ist eine Indiskretion, die ohne Zweifel ihre Befugnisse überschreitet, und zudem eine, wie ich glaube,
wohlberechnete Indiskretion, die mich beruhigen soll. Ich lasse Schuschka eine Wendung machen und auf dem geraden Weg Schritt
gehen, wenn ich einen Weg, von dem ich nicht weiß, wohin er führt, »gerade« nennen kann. Jedenfalls ist nicht auszuschließen,
daß die Berechnung doppelt ist und Jackie mich beruhigt, um mich in falsche Sicherheit zu wiegen und mich nur um so fügsamer
zum machen. Da ich in diesem Punkt nicht klarsehe, verlasse ich mich auf meinen Instinkt, also auf Intuitionen, die sich von
einem Augenblick zum andern widersprechen.
Bisher ist es der »gewohnte Weg« unserer Gruppenausflüge, nur daß ihn heute die Rinnsale unterhöhlen und von den steil aufragenden
hohen Tannen beim geringsten Windstoß Wassertropfen auf unsere Köpfe herabrieseln. Ich bin froh, daß ich meinen Wettermantel
angezogen habe, und als ich in den Taschen meine Handschuhe suche, finde ich meine zerknitterte Golfmütze, die ich seit Monaten
vergessen hatte. Ich setze sie auf. So schütze ich mich vor den Regentropfen und genieße es, mit der alten Kopfbedeckung ein
Stückchen Vergangenheit wiedergefunden zu haben. Ein kurzes Vergnügen: bald sinkt die Stimmung wieder.
Hätte ich heute nachmittag Hilda Helsingforths Befehl verweigern können? Auf gar keinen Fall. Die Gefahr, alles zu verlieren,
war zu groß. Und jetzt gehe ich, Geisel oder Gefangener, |210| einem ungewissen Schicksal entgegen, mit einer bewaffneten Milizionärin im Rücken. Ich weiß nicht einmal, was der nächste
Augenblick bringen wird.
Der Weg steigt jetzt weniger an, und ich falle in Trab, allein schon um meinen düsteren Gedanken zu entfliehen. Brave Schuschka.
Sie ist das einzige mir wirklich freundlich gesinnte Lebewesen in dieser öden Landschaft. Außer dem sandigen, aufgeweichten
Weg, der sich endlos zwischen den Tannen hinzieht, gibt es nur den bleiernen Himmel und ein fahles Licht unbekannter Herkunft.
Wenn der Wind sich legt, höre ich nur das weiche Aufschlagen der Hufe meiner Stute und hinter mir den gedämpften Hufschlag
des Wallachs, der sich dem Rhythmus nicht anpaßt. Das dumme Vieh trabt militärisch im Takt.
Ich komme an die besagte Kreuzung, an der Jespersen wie wild geworden losgaloppiert war, und biege selbstverständlich nach
links ein. Hinter mir wird ein Befehl laut.
»Nach rechts, Doktor!«
Nach rechts! Der verbotene Weg! Jespersens »Flucht«! Der von Pussy abgegebene Schuß! Ich bringe Schuschka zum Stehen und wende
mich Jackie zu.
»Habe ich richtig verstanden: nach rechts?«
Jackie kommt näher, schön und streng, viel größer wirkend, weil der Gewehrlauf über ihre Schulter ragt. Sie bringt ihren Wallach
in genügend großer Entfernung von Schuschka zum Stehen und sagt kurz: »Sie haben richtig verstanden!«
Ich sehe sie an.
»Dieser Weg ist für uns verboten«, sage ich.
»Heute nicht.«
»Wer hat das gesagt?«
»Ich.«
Nach kurzer Überlegung treffe ich eine Entscheidung, die mich erleichtert. Ich weigere mich zu gehorchen.
»Danke, das mache ich nicht.«
Jackie sieht mich an.
Meine Aufsässigkeit setzt sie derart in Erstaunen, daß sie vergißt, sich zu ärgern.
»Was?« fragt sie. »Was sagen Sie da?«
»Ich werde diesen Weg nicht einschlagen.«
»Warum nicht?«
»Er ist verboten.«
|211| Jetzt sieht sie mich an.
»Doktor, ich habe Ihnen eben gesagt, daß heute ausnahmsweise …«
Sie beendet den Satz nicht, doch hat sie geduldig wie zu einem störrischen Kind gesprochen. Ich sehe, daß ihre Augen eher
unruhig als verwirrt sind. Da hat sie die Bescherung, meine Milizionärin. Das Paket rebelliert; es weigert sich, dem Empfänger
ausgeliefert zu werden. Was wird sie unternehmen? Mir drohen? Das ist ihr eben nicht sonderlich gelungen.
An ihrem Schweigen ermesse ich ihre Hilflosigkeit. Sie beruhigt mich endgültig. Jetzt ist alles völlig klar. Jackie hat Befehl,
das Paket eigenhändig abzuliefern. Sie hat keinen Auftrag erhalten, es unterwegs zu vernichten.
Ich will trotzdem meinen Vorteil ausnutzen – ohne zu übertreiben.
»Danke«, sage ich. »Ich habe keine Lust, mich abknallen zu lassen.«
»Ich Sie abknallen?« fragt sie ungläubig.
»Pussy hat doch auch auf Jespersen
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