Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
Vom Netzwerk:
nur da und starrte auf sein unheilvolles Werk.
    Der Rabe lag am Boden. Zwei Federn schwebten noch in der Luft und sanken langsam und sachte, wie schwarzer Schnee zu Boden. Jonathan rührte sich nicht. War er tot? Sein linker Flügel stand merkwürdig abgeknickt von dem Vogelkörper ab, und Blut färbte den hellen Teppich rot.
    Ein böses Lächeln erschien auf Udos Lippen, und er wischte sich langsam übers Gesicht, so dass das Blut auf seinen Wangen breite Streifen zog, die einer grausamen Kriegsmaske glichen. Hinter meiner Stirn explodierte rotglühender Hass.
    »Nein!«, schrie ich und griff nach dem Erstbesten, was ich in die Hand bekam. Es war die Kristallkaraffe auf dem Tischchen neben dem Schreibtisch. Ohne zu zögern sprang ich auf Udo zu, holte aus und schmetterte das schwere Gefäß mit voller Wucht gegen seine Schläfe.
    Ein grauenvoll dumpfer Laut ertönte. Durch den Schlag löste sich der gläserne Verschluss aus dem Hals der Karaffe, bernsteinfarbene Flüssigkeit spritzte heraus, und gleich darauf durchzog ein beißender Geruch nach Alkohol das Zimmer.
    Der massige Mann verdrehte die Augen und brach in die Knie. Mit dem Gesicht voran ging er zu Boden und rührte sich nicht mehr. War auch er tot? Überrascht stellte ich fest, wie gleichgültig mir das in diesem Augenblick war. Für mich zählte nur Jonathan. Doch da sah ich aus dem Augenwinkel Udos feisten Rücken sich heben und senken. Er war also nur bewusstlos. Ich schenkte ihm keine Aufmerksamkeit mehr, sondern bückte mich hastig und hob behutsam den verletzten Raben auf.
    Jonathans Augenlider zuckten, dann öffneten sie sich halb. Doch sein Blick war matt, und innerhalb kurzer Zeit war meine rechte Hand blutverschmiert. Er gab nur einen kleinen Laut von sich, schwach wie das Seufzen des Windes, ehe ihm die Augen wieder zufielen. Ich wirbelte herum und rannte aus dem Haus, so schnell es mit dem verwundeten Vogel in meinen Händen nur ging.
     
    Lilly und Herr Spindler sprangen aus dem Auto, sobald ich durch die Gartenpforte gerannt kam. »Emilia, Sie bluten ja, ist etwas passiert?«, rief der alte Mann. Lilly starrte mich nur stumm an, offenbar hatte es ihr vor lauter Schreck die Sprache verschlagen. Keuchend schüttelte ich den Kopf und streckte Spindler meine blutverschmierten Hände entgegen. Er warf nur einen Blick auf den verletzten Raben, und seine Lippen wurden schmal.
    »Wir müssen sofort in eine Tierklinik, das sieht ernst aus«, gab er knapp zu verstehen und riss die hintere Autotür auf, damit ich einsteigen konnte. Vorsichtig, um Jonathan nicht noch mehr Schmerzen durch die Erschütterung zu bereiten, ließ ich mich auf den Rücksitz sinken und legte den Raben sanft auf meinen Schoß. Ich spürte ein schwaches Zucken seines Körpers, ansonsten gab er kein Lebenszeichen von sich. Lilly, die auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, drehte den Kopf und forschte ängstlich in meinem Gesicht.
    »Schnell«, flehte ich, doch meine Stimme wurde von den aufsteigenden Tränen erstickt. Eine heiße, brennende Spur zog von meinem Brustbein die Kehle hinauf und schnürte mir die Luft ab.
    Spindler gab Gas, und die Reifen des alten Autos drehten sekundenlang durch. Dann brausten wir die Straße entlang und hätten um Haaresbreite einen großen, schwarzen Angeberschlitten gestreift. Ein wütendes Hupen, dann war er auch schon vorbei. Flüchtig sah ich hoch und erblickte gerade noch Karlas Gesicht hinter der Scheibe. Also waren Claudia und die Kinder vom Ausflug zurück. Normalerweise hätte ich mich gefragt, wie Udo ihr wohl die Sauerei erklärte, die das Blut und die zerbrochene Karaffe angerichtet hatten. Ganz zu schweigen von dem Grund für seine Beule am Kopf, die ihm hoffentlich einige Tage böse Kopfschmerzen bereiten würde.
    Jetzt aber war es mir egal. Was zählte, war Jonathan.
    Immer noch tropfte frisches Blut von seinem Flügel, und mich überkam eine dumpfe Angst. Ich schloss die Augen und versuchte, ihm gedanklich Kraft und Zuversicht zu übermitteln, doch das erste Mal hatte ich das Gefühl, nicht zu ihm durchdringen zu können. Es war, als würde ich durch zähen, schwarzen Schlamm waten und keinen Schritt vorwärtskommen.
    Auf einmal begann der Körper des Raben zu zucken. Kurz flammte Hoffnung in mir auf, er würde aufwachen, dann jedoch geschah etwas, das mich laut aufschreien ließ. Der Vogel bäumte sich auf, gleichzeitig sah es aus, als würde der Rumpf in die Länge gezogen. Jonathans unverletzter, rechter Flügel streckte sich

Weitere Kostenlose Bücher