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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Wiltenberg!«, flüsterte er tonlos.
     
    Wenn ich gehofft hatte, Udo würde mich vor lauter Schreck loslassen, und ich könnte ihm doch noch entkommen, hatte ich mich getäuscht. Mit vorgehaltener Waffe hatte er mich durchs Zimmer gezerrt und in einen seiner protzigen Ledersessel geschubst. Dort hockte ich nun zusammengekauert, während Jonathan auf unerklärliche Weise verschwunden war. Hatte er sich aus dem Staub gemacht, um Spindler zu Hilfe zu holen? Allerdings würde sich der alte Lehrer nur ebenfalls in Gefahr bringen, sollte er hier auftauchen. Meine Gedanken wurden von Udo unterbrochen.
    »Wo bist du die ganze Zeit gewesen?«, presste er hervor.
    Obwohl mir vor Angst schlecht war, zwang ich mich, ihm in die Augen zu sehen. »Hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen«, sagte ich und bemühte mich um einen möglichst kühlen Tonfall. Kurz blitzte in meinem Kopf der Gedanke auf, dass die Zeit auch die Verhältnisse durcheinandergebracht hatte: Jetzt war er der Ältere und ich die Jüngere. Mein Zorn auf meinen ehemaligen Schüler war jedoch noch so frisch wie vor siebenundzwanzig Jahren. »Du erinnerst dich vielleicht, dass du mich damals einfach verletzt liegen gelassen hast!«, schleuderte ich ihm entgegen.
    Udo ging nicht darauf ein, sein Blick klebte förmlich an mir. »Alle dachten, du wärst tot«, sagte er heiser und musterte mich, als sei ich ein Gespenst. Und für ihn war ich das ja auch: ein Geist aus der Vergangenheit, der ihn daran erinnerte, was er damals zu tun bereit gewesen war, um an den Ring zu kommen.
    »Es kann nicht mit rechten Dingen zugehen, dass du hier bist – noch dazu …« An dieser Stelle fehlten ihm offenbar die Worte, und er fuchtelte nur mit dem Revolver vor mir herum. »So!«, ergänzte er und glotzte mir fassungslos ins Gesicht.
    »Tja, Udo, ich habe mich in den dreißig Jahren eben gut gehalten – im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten. Aber wenn ich dir erzähle, was ich in dieser Zeit erlebt habe, würde das deinen geistigen Horizont deutlich überschreiten«, gab ich lässiger zurück, als mir zumute war. Aber Angst zu zeigen, war bei ihm schon damals falsch gewesen. Es hatte ihn nur dazu verleitet, einen noch mehr zu quälen. Daher fügte ich hinzu: »Deine Knarre wird dir übrigens nicht viel nützen. Dein ehemaliger Geschichtslehrer Herr Spindler sitzt draußen im Auto. Er wartet auf mich, und wenn ich nicht bald rauskomme, ruft er die Polizei.«
    Udo klappte der Mund auf, und seine Neugierde über meinen Aufenthalt schien wie weggeblasen. »Der Spinner weiß Bescheid?«, brachte er nur heraus.
    Schlagartig erinnerte ich mich an den Spitznamen, mit dem meine Praktikumsklasse ihren Lehrer immer heimlich betitelt hatte, weil er von verschiedenen Zeitebenen und allerlei anderen kruden Theorien fasziniert gewesen war.
    »Ja, und er weiß auch, was damals auf dem Bergausflug in den Dolomiten passiert ist«, gab ich zurück und beobachtete, wie Udos sowieso schon blasse Gesichtsfarbe jetzt einen grünlichen Schimmer annahm. Obwohl ich mich durch den auf mich gerichteten Revolver eindeutig in der schlechteren Position befand, machte sich ein Gefühl der Überlegenheit in mir breit. Ich genoss es, ihn aus der Bahn geworfen zu haben.
    »Du hast nur eine Chance, aus der Sache rauszukommen«, erklärte ich ihm. »Gib mir den Ring, und ich werde kein Wort über die Sache verlieren. Weder von heute noch von damals.«
    Als ich den Ring erwähnte, verzog sich Udos Gesicht zu einer tückischen Grimasse. Er musterte mich verächtlich, doch seine Augen waren kalt und tot und glichen dem erloschenen Bergkiesel.
    »Der Ring gehört mir! Ich habe ihn an einen anderen Ort gebracht. Dort ist er sicher vor Dieben wie dir und Frank!«
    Obwohl mein Herz vor Hass wild in meinem Brustkorb hämmerte und ich ihn am liebsten angeschrien hätte, zwang ich mich zu einem ruhigen Tonfall.
    »Der Dieb bist du, Udo!
Ich
hatte den Ring damals gefunden und wollte ihn zurückgeben.
Du
hast ihn mir mit Gewalt abgenommen und mich blutend alleingelassen. Ich hätte sterben können, aber das war dir egal. Wie skrupellos muss man sein, siebenundzwanzig Jahre nicht nur mit der Gewissheit zu leben, etwas gestohlen zu haben – sondern auch, ein feiger Mörder zu sein?«
    Udo starrte mich an. Die ungesunde Blässe seiner Haut hatte sich vertieft, aber auf seinen Wangen brannten nun zwei kreisrunde, hellrote Flecke.
    »Eigentlich habe mich ja lange genug an den Gedanken gewöhnen können«, sagte er

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