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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Seite, um den Herzschlag zu prüfen, doch ich konnte ihn nicht spüren. Waren wir zu spät gekommen?
    »Jonathan, verlass mich nicht«, flüsterte ich. Eine namenlose Furcht überfiel mich, und das Gefühl war genauso heftig wie in dem Moment, als Udo den Revolver auf mich gerichtet und gedroht hatte, mich zu töten. Zu wissen, dass das eigene Leben bald vorbei ist, war unbeschreiblich grauenhaft, aber genauso schrecklich fühlte es sich an, um einen geliebten Menschen zu fürchten. In diesem Augenblick wurde mir klar, warum Jonathan sein Leben riskiert hatte, damit ich vor Udo fliehen konnte. Er hätte es nicht ertragen, mit meinem Tod fertig werden zu müssen. Genauso wenig, wie ich nun die Vorstellung ertrug, in Zukunft ohne ihn zu sein.
    Ohne nachzudenken drückte ich die Rose mit aller Kraft auf Jonathans Herz. Ich hatte das Gefühl, die letzten Reste ihrer Zauberkräfte auspressen zu müssen, damit er leben konnte. Vor meinem inneren Auge entstand das Bild von Blütenblättern, aus denen blutrote Tropfen hervorquollen, die direkt in Jonathans Herz flossen.
    Meine Lippen bewegten sich in einer stummen Beschwörung der Rosenmagie: »Gib mir meinen Liebsten zurück.«
    Eine Weile lag er noch bleich und leblos da. Doch dann spürte ich ein Pochen unter meinen Handflächen: sein Herzschlag! Mit jeder Sekunde wurde das Schlagen kräftiger, und das Gesicht bekam seine rosige Farbe zurück, ebenso seine Lippen, deren bläuliche Farbe einem gesunden Rot wich. Ich wagte kaum zu atmen und tatsächlich zu hoffen, er würde aufwachen, doch auf einmal öffnete Jonathan die Augen.
    »Emma«, sagte er und lächelte. »Du lebst.«
    »Ja. Und du auch«, brachte ich gerade noch heraus, bevor Jonathan in einem kurzen Lichtblitz verschwand. Statt seiner hockte dort nun wieder der schwarze Rabe. Laurin gönnte mir Jonathan in Menschengestalt also nur, wenn er zu sterben drohte.
    Am liebsten hätte ich meine Verzweiflung und Wut laut herausgeschrien. Doch die Verwandlung war der Preis, den wir für sein Leben zahlen mussten. Ich kniete immer noch am Boden, da spürte ich zwei schmale Arme, die sich von hinten um mich legten. Lilly drückte mich tröstend an sich, und auch Spindler legte mir die Hand auf die Schulter. »Er lebt, und das ist das Wichtigste«, sagte der ältere Mann leise, und ich nickte.
    »Oh Mann, ich bin fast gestorben vor Angst!«, platzte Lilly heraus. Gleich darauf schlug sie die Hand vor den Mund und murmelte »Sorry«, wobei sie mir einen schuldbewussten Blick zuwarf.
    »Schon gut«, sagte ich und brachte sogar ein Lächeln zustande. Der Rabe flog auf meinen Arm und sah mich an. Ich spürte seine Dankbarkeit und küsste ihn auf seinen schwarzglänzenden Kopf.
    »Sie haben Jonathan mit Ihrem Einfall, die Rose zu Hilfe zu nehmen, gerettet, Emilia«, meldete sich Spindler zu Wort, und obwohl ihm die Erleichterung deutlich anzusehen war, wirkte sein Gesicht grau und erschöpft. Schwarze Schatten lagen unter seinen Augen, und die Falten zwischen Mund und Nase schienen viel tiefer geworden zu sein. Erschrocken sah ich zu ihm auf.
    »Ist Ihnen nicht gut?«, erkundigte ich mich besorgt.
    »Es geht schon. Die Aufregung war vielleicht etwas viel für mich alten Haudegen«, versuchte mich mein ehemaliger Tutor zu beruhigen, aber seine Stimme klang brüchig.
    »Warten Sie, ich helfe Ihnen«, sagte ich und stand auf. Ich streckte die Hand aus, in der ich die Rose hielt, um Spindler damit zu berühren und seine Beschwerden zu lindern. Doch was ich zwischen meinen Fingern hielt, war nicht länger eine blühende Pflanze, sondern grauer, toter Stein. Waren zuvor nur die äußeren Blätter betroffen gewesen, hatte die Versteinerung inzwischen die gesamte Blume überzogen. Kein einziger Hauch von Rot war mehr zu erkennen, hart und schieferartig ragten die Blätter aus dem ebenfalls erstarrten Blumenstiel.
    »Lassen Sie es gut sein, Emma«, sagte Spindler sanft. »Ich komme schnell wieder auf die Beine, wenn ich mich ein wenig ausruhe. Bei mir zu Hause«, ergänzte er, weil Lilly mit einladender Geste auf das Sofa wies.
    »Können Sie denn noch fahren?«, wollte ich besorgt wissen. Leider besaß ich keinen Führerschein. Ohne Eltern hatte mir einfach das Geld für Fahrstunden gefehlt. Ich erklärte das Spindler, und er winkte ab.
    »Es geht schon«, behauptete er.
    »Oder soll ich …«, hob Lilly an, um auf unsere Blicke hin, die sich schlagartig auf sie richteten, kleinlaut zuzugeben, ihr Vater hätte sie bereits einige Male

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