Die gestohlene Zeit
nachdenklich und schien zu sich selbst zu sprechen. »Also spielt es doch keine Rolle, wenn es jetzt tatsächlich so wäre, oder?«
Ich verstand nicht, was er meinte, bis er den Revolver entsicherte.
»Spindler sitzt draußen im Auto und will die Polizei rufen? Na, und wenn schon!«, schnaubte er verächtlich, während er den Pistolenlauf auf mich richtete.
»Ich werde den Beamten Folgendes erzählen: Ich bin nach Hause gekommen und habe gemerkt, dass die Haustür geknackt wurde. Aus meinem Arbeitszimmer kamen komische Geräusche. Vorsichtshalber habe ich mich ins Schlafzimmer geschlichen und meine Waffe geholt. Dann bin ich hier ins Zimmer gegangen. Dort stand der Tresor offen, und ein Einbrecher hat sich daran zu schaffen gemacht. Er trug eine Gesichtsmaske, und als er mich gesehen hat, wollte er mich angegreifen. Da habe ich geschossen«, erklärte Udo mechanisch, so als würde er ein Protokoll verlesen.
»Damit kommst du nicht durch«, schleuderte ich ihm entgegen, obwohl mein Puls vor Angst raste und mir mein Gefühl sagte, ich solle mir da nicht so sicher sein. Er war ein prominenter Anwalt, während ich nicht einmal mehr einen Pass besaß. Geschweige denn Zeugen. Udo musste meine Gedanken erraten haben, denn sein Mund verzog sich zu einem hässlichen Feixen.
»Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig. Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft. Strafgesetzbuch, Paragraph 32 und 33 «, leierte er herunter. Dann sah er mich an und sagte ganz ruhig:
»Jeder Polizist in dieser Stadt wird mir glauben.« Damit hob er die Waffe.
Ich schloss die Augen. Nun würde er also vollenden, was ihm vor fast dreißig Jahren nicht gelungen war. Und ich würde nie mehr mit Jonathan zusammen sein können. Oder Caro noch einmal wiedersehen. Vielleicht war es gut, dass sie nichts von all dem wusste. Auf diese Weise musste sie nicht zweimal um mich trauern. Der Gedanke an sie, Lilly und Spindler versetzte mir einen scharfen Stich. Ich wollte die Menschen, die ich liebgewonnen hatte, nicht verlieren, vor allem nicht Jonathan. Ich hatte die Gefangenschaft im Reich der Zwerge, ihren grauenhaften König und die Flucht überlebt, nur um hier zu sterben, ohne ihn noch einmal sehen oder berühren zu können? Ich hätte ihm gerne noch gesagt, wie sehr ich mich in ihn verliebt habe, dachte ich benommen, während ich auf den Knall und den anschließenden Einschlag der Kugel wartete. Würde ich den Schmerz noch fühlen, wenn sie mein Herz zerriss, ehe es für immer zu schlagen aufhörte? All diese Gedanken rasten in Sekundenschnelle durch meinen Kopf.
Urplötzlich vernahm ich einen erstickten Schrei. Ich riss die Augen auf. An der Stelle, an sich eben noch Udos Gesicht befunden hatte, war nun ein Wirbel schwarzer Federn.
Jonathan!, dachte ich, gleichzeitig erschrocken und erleichtert. Der Rabe hatte sich offenbar bei Udos Eintritt versteckt und ihn jetzt überraschend angegriffen, kurz bevor dieser schießen wollte.
Der stämmige Mann taumelte und schlug blind um sich, doch er ließ die Waffe nicht los. Ich schnellte aus dem Sessel und brachte mich mit einem Sprung aus der Schusslinie. Derweil attackierte Jonathan mit seinen scharfen Vogelkrallen Udos Gesicht. Der brüllte erneut auf, und gleich darauf rannen zwei dünne, rote Fäden über seine Wangen.
Unwillkürlich musste ich an die blutigen Tränen denken, die aus Laurins Augen geflossen waren, nachdem mir mit Hilfe der giftigen Pflanze die Flucht gelungen war.
Die Erinnerung ließ mich sekundenlang vor Grauen erstarren. Es war plötzlich, als wären Udo und der Zwergenkönig zu einem einzigen, monströsen Wesen verschmolzen.
Durch den roten Nebel des Entsetzens vernahm ich Jonathans Krächzen, und in meinem Kopf formte sich ein Wort: Lauf!
Doch ich zögerte. Ich wollte Jonathan nicht zurücklassen. Der startete gerade einen erneuten Angriff und hackte nach Udos Hand, doch der schlug wie ein Verrückter um sich und traf Jonathan eher zufällig mit einem gewaltigen Fausthieb. Der Rabe geriet ins Taumeln, wodurch er Udo wertvolle Zeit verschaffte, um sich zu orientieren. Sie reichte ihm, um die Pistole auf den Vogel zu richten und abzudrücken.
Der Knall war ohrenbetäubend, und obwohl ich danach ein lautes Klingeln in den Ohren hatte, sah ich sofort, dass Jonathan getroffen worden war. Auch Udo schien einen Moment lang benommen von dem Knall, denn er stand auch einfach
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