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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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in einem heftigen Krampf, und die äußeren Federn fächerten auf. Ihre schwarze Farbe schien herauszufließen wie auslaufende Tinte, dann begannen sich die einzelnen Federn zu verformen und wurden zu fünf Fingern und der Flügel zu einem Arm. Dasselbe geschah mit dem Rest seines Körpers. Ähnlich eines Aquarells, in dem die Farben ineinanderflossen, verwandelte sich der Rabe langsam in einen Menschen. Quer über meinen Beinen lag nun der Mann Jonathan auf dem Rücksitz.
    Doch er schien bewusstlos zu sein, denn seine Augen waren geschlossen, und seine Brust hob und senkte sich nur schwach. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, mit den bläulichen Lippen und der marmorweißen Haut glich er bereits weniger einem Menschen aus Fleisch und Blut denn einer starren Skulptur. Nur Laurins Brandmal hob sich dunkelrot auf seinem Arm ab, doch es wurde ebenfalls von Sekunde zu Sekunde blasser.
    »Jonathan«, rief ich ängstlich, da fiel mein Blick auf seinen linken Arm, der kraftlos herunterhing. Eine hässliche Schusswunde klaffte in der Nähe seiner Schulter, aus der stoßweise Blut austrat.
    Schlagartig ahnte ich, warum er am helllichten Tag wieder zum Menschen geworden war. Jonathan drohte zu verbluten, und offenbar verlor Laurins Fluch kurz vor Eintritt des Todes seine Wirkung.
    »Jonathan, nein, bitte stirb jetzt nicht«, wimmerte ich, während mir die Tränen aus den Augen strömten. Ich könnte es nicht ertragen, ohne ihn zu sein. Er durfte jetzt nicht sein Leben verlieren, weil er meines gerettet hatte.
    »Wir fahren ins Krankenhaus«, presste Spindler nach einem schnellen Blick in den Rückspiegel hervor.
    »Zu spät«, hallte es in meinem Kopf, und ein Bild formte sich: Jonathan lag leblos auf einer Krankenbahre, ich stand weinend daneben. Am liebsten hätte ich meine Wut und Verzweiflung laut herausgeschrien. Unsere Flucht aus Laurins steinerner Höhle fiel mir ein, die ich nur überstanden hatte, weil Jonathan an meiner Seite war. Trotz blutender Füße hatte er durchgehalten …
    »Fahren Sie zu Caros Haus«, schrie ich, weil mir soeben die rettende Idee kam.
    »Aber …«, wollte Spindler einwenden, doch mein hastig vorgebrachtes »Bitte vertrauen Sie mir, es ist die einzige Möglichkeit, Jonathan zu retten!«, brachte ihn zum Schweigen.
    Während Spindler das Letzte aus seinem klapprigen Wagen herausholte, hielt ich Jonathans kalte, bleiche Hand und flehte ihn stumm an, durchzuhalten.
    In Caros Haus angekommen, trugen der ältere Mann und ich den Bewusstlosen mit vereinten Kräften ins Haus, gefolgt von der panisch schluchzenden Lilly. Vorsichtig betteten wir ihn im Wohnzimmer auf eine Decke. Mit einer zweiten deckte Spindler seinen nackten Körper zu, um ihn warm zu halten, während ich nach oben rannte und die Tür zu dem Zimmer aufriss, in dem Jonathan und ich schliefen. Dort, wo auch die Vase mit Laurins Rose stand.
    Ich riss sie an mich, ohne darauf zu achten, wie hart sich ihr Stiel anfühlte. Dann stürmte ich die Treppe wieder hinunter und wäre in der Hast beinahe gestürzt. Erst als ich mich hinkniete und über Jonathan beugte, sah ich, dass die Farbe der äußeren Blütenblätter zu einem fahlen Grau verblasst war. Nur das Innere der Rose hatte sein sattes Burgunderrot behalten. Ich berührte eins der welken Blättchen mit den Fingerspitzen und erschrak. Die samtige Weichheit hatte sich in etwas Hartes, Unnachgiebiges verwandelt. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff: Die äußeren Blüten waren versteinert! Ebenso der Stiel. Deswegen hatte er sich so merkwürdig starr in meiner Hand angefühlt. Ließ die Zauberkraft der Rose etwa nach, genau wie die des Bergkiesels?
    Rasch brach ich die steinernen Rosenblätter ab und strich dann mit der verbleibenden Blüte über Jonathans verletzten Arm. Einmal, zweimal … Langsam versiegte der Blutstrom aus der Wunde. Ich hörte neben mir Spindler scharf die Luft einziehen. »Das ist ja unglaublich«, murmelte er.
    Beharrlich strich ich mit der Rose weiter über die Wunde, die sich vor unseren Augen schloss. Nach kaum einer Minute sah Jonathans Arm so unversehrt aus, als hätte es die Schussverletzung nie gegeben. Nicht einmal mehr das verkrustete Blut war zu sehen. Erleichtert ließ ich die Rose sinken, und auch der alte Lehrer atmete auf. Lillys Schluchzen verstummte.
    Doch Jonathan war immer noch unnatürlich bleich und hatte die Augen nach wie vor geschlossen. Kein Heben und Senken seiner Brust war zu erkennen. Ich legte meine Hand auf seine linke

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