Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
Vom Netzwerk:
Rosengarten in voller Pracht. Hastig lief ich auf den Felsen zu, der den Eingang zu Laurins Herrschaftsgebiet markierte. Das graue, zerklüftete Gestein ragte drohend vor mir auf, und ich hatte Mühe, meine Stimme zu finden.
    »Laurin!«, rief ich laut. »König der Zwerge, komm heraus!«
    Im selben Moment kam ich mir ziemlich blöd vor, wie ich da mitten im Gebirge stand und nach einem Zwerg rief. War ich Schneewittchen oder was? Doch im Gegensatz zu ihr sah ich nicht mal den Hauch eines Zwerges. Hatte ich etwas falsch gemacht? Gab es am Ende irgendeine bestimmte Formel à la »Sesam öffne dich«, um Laurin aus seinem Berg zu holen? Weil ich keine Ahnung hatte, wie ich einen kleinwüchsigen Herrscher sonst anreden sollte, rief ich noch einmal, diesmal lauter: »Zwergenkönig! Ich bringe dir deinen verlorenen Ring wieder!«
    Ich lauschte angestrengt, aber nur das leise Zwitschern eines weiter entfernten Vogels war in der beginnenden Abenddämmerung zu hören. Keine Schritte, nicht einmal ein Knacken verriet, ob Laurin oder einer seiner Untertanen meine Rufe gehört hatten. Jonathan, der zu meinen Füßen hockte, schlug unruhig mit den Flügeln, und auch mir wurde mulmig. Die Sonne war schon beinahe hinter die Bergspitzen getaucht, und mit ihr würde der Zaubergarten verschwinden und wieder unsichtbar für das menschliche Auge werden …
    Einem spontanen Einfall folgend, ging ich ein paar Schritte, bis ich am Rande des Gartens stand. Die tiefroten Blütenkelche der prächtigen Rosen schienen erneut ein Feuer in ihrem Inneren entfacht zu haben, doch mein Blick suchte nach den dünnen, goldenen Schnüren. Sie waren mir bei meinem ersten, unfreiwilligen Aufenthalt zum Verhängnis geworden, weil sie die rabiaten Zwerge auf den Plan gerufen hatten. Endlich entdeckte ich eine, fein wie ein Haar und dennoch mit der Macht versehen, das Oberhaupt der Zwerge aus seinem unterirdischen Palast zu locken. Entschlossen packte ich den schimmernden Faden mit beiden Händen und riss ihn mit einem Ruck entzwei. Ein kaum hörbares Sirren ertönte.
    Der Rabe stieß einen schrillen Schrei aus, aber ich winkte ab. »Vertrau mir. Ich weiß, was ich tue«, sagte ich.
     
    Innerhalb von Sekunden waren sie da. Es waren drei Zwerge, angeführt von ihrem König. Bei meinem Anblick erstarrte die Horde sekundenlang. Ihre Blicke schossen zwischen mir und Laurin hin und her. Dessen krötenartiger Mund verzog sich zu einem seligen Lächeln.
    »Similde! Du bist zurückgekehrt!«, rief er beglückt und watschelte auf mich zu, so schnell ihn seine kurzen, krummen Beine trugen. Dann aber verfinsterte sich seine Miene: »Du hast mich und mein Volk zu vergiften versucht …«, begann er drohend, aber ich hob die Hand.
    »Halt«, rief ich mit lauter Stimme, obwohl ich am liebsten vor diesem Widerling davongerannt wäre. »Wage es nicht, mich anzurühren! Ich bin nicht zu dir zurückgekommen. Ich will dir einen Handel vorschlagen.«
    Auf dem narbigen, mit tiefen Furchen durchzogenen Gesicht des Zwergenherrschers machte sich ein verschlagener Ausdruck breit. »Jeder, der in meinen Rosengarten eindringt, ist mein!«, zischelte er und machte einen weiteren Schritt auf mich zu. Seine Horde rückte mit einem hungrigen Grinsen nach. Aus dem Augenwinkel sah ich Jonathan, der auf einem der niedrigen Findlinge saß und in Angriffstellung ging.
    »Ich habe keinen Fuß in deinen Garten gesetzt«, gab ich dem König Kontra. »Die Schnur habe ich mit Absicht zerrissen, weil du auf mein Rufen hin nicht erschienen bist!«
    »Du bist hier, also gehörst du mir! Und es gibt nichts, was du dagegen tun kannst«, kreischte der König triumphierend. Schon streckte er seine hornigen Finger mit den bräunlichblau verfärbten Nägeln nach mir aus.
    Blitzschnell griff ich in meine Hosentasche und zog den goldenen Ring heraus. Wie einen Schutzschild hielt ich ihn vor mich. Die letzten orangeroten Sonnenstrahlen ließen das kostbare Metall aufleuchten, und aus dem Inneren des Steins explodierten grüne Funken. Die Augen des Zwergenkönigs weiteten sich.
    »Mein Ring!«, stammelte er und wollte mit zitternder Klaue nach dem Schmuckstück greifen, wie ein Ertrinkender nach dem Rand des Rettungsbootes. Doch ich dachte nicht daran, die Kostbarkeit herauszugeben, sondern streifte ihn mir demonstrativ über meinen Finger. Wie von einem Peitschenhieb getroffen, verzog Laurin schmerzlich das Gesicht, was ich mit einiger Schadenfreude registrierte.
    »Du hast keine Macht über mich«, sagte

Weitere Kostenlose Bücher