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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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besaß dieser Raum jedoch eine niedrige Decke und war kleiner. An der Stirnseite stand ein riesiger, gemauerter Herd, dessen eiserne Oberfläche an einigen Stellen rot glühte, wahrscheinlich von dem Feuer, das in seinem Inneren brannte, denn es war unerträglich heiß hier drin.
    Über der Feuerstelle hing an einem eisernen Gestell, von dem ich aus irgendeinem Geschichtsbuch wusste, dass es »Dreifuß« genannt wurde, ein imposanter Kessel, in den locker zwei Zwerge gleichzeitig gepasst hätten. Nach den Erfahrungen, die ich mit diesen Wesen bisher gemacht hatte, hätte ich sie zu gerne eigenhändig dort hineingestopft und zum Kochen übers Feuer gehängt. Rechts und links vom Herd standen mehrere grob behauene Holzregale, auf denen Tonschüsseln und -krüge aufgereiht waren.
    Meine Aufmerksamkeit wurde jedoch von einem Messerblock angezogen, aus dem fein säuberlich mehrere breite Griffe ragten. Ehe ich aber noch den Gedanken weiterspinnen konnte, schlenderte einer meiner Bewacher zu dem Block hin und nahm die zwei größten Messer an sich. »Muss er eben mit den kleinen schneiden«, sagte er spöttisch und wies grinsend mit einer Kopfbewegung auf die übrigen Messerchen, die nicht einmal einen Hasen erschrecken würden, so schmal waren ihre Klingen. Die anderen lachten beifällig. Ich fragte mich, wen der Zwerg wohl mit »er« gemeint hatte, denn von mir konnte ja wohl kaum die Rede sein.
    Einer der Zwerge war inzwischen in die linke Ecke der Küche vorgedrungen und spähte angestrengt hinter ein paar hüfthohe Körbe aus Weidenzweigen, die offenbar zum Transport von Gemüse oder Kartoffeln dienten und ein Stück weit weg von der Wand standen. Mit dem Stiel eines daneben lehnenden Reisigbesens stocherte er hinter den Körben herum. »Heda, Faulpelz! Aufwachen«, keifte er. Wer sich wohl dort hinten verbarg? Musste ich etwa mit einem weiteren buckligen Gnom hier in der Küche arbeiten?
    Doch was schließlich mit einem unwilligen Laut hinter den Körben auftauchte, war kein Zwerg. Es war Thomas Anders vom Duo Modern Talking. Das war jedenfalls mein erster, flüchtiger Eindruck im dämmrigen Licht, das ein paar rauchende Talglichter spendeten. Endlich war klar, wo er nach der Trennung von Dieter Bohlen abgeblieben war, ging mir durch den Kopf. Erst auf den zweiten Blick bemerkte ich meinen Irrtum. Zwar hatte der junge Mann in der Küche ähnlich dunkle, lange Haare wie der Popsänger, aber war deutlich jünger. Ich schätzte ihn auf Anfang zwanzig. Als er mich sah, weiteten sich seine kornblumenblauen Pupillen vor Überraschung, und seine dunklen Augenbrauen schossen nach oben. Auch ich starrte ihn verblüfft an. Einen Menschen hätte ich im Zwergenreich am wenigsten erwartet. Sein Gesicht war unnatürlich blass, aber trotz der offenbar harten Küchenarbeit sah er um Längen besser aus als das Gesangsduo Bohlen/Anders zusammen, registrierte ich flüchtig. Die leicht gebogene Nase gab seinem Gesicht etwas Verwegenes. Seine Lippen waren nicht zu schmal und nicht zu voll. Trotz seiner etwa zwanzig Jahre wirkte er ziemlich erwachsen. Gegen ihn erschienen die Gnome nun doppelt hässlich und missgestaltet.
    Das einzig Merkwürdige war seine Kleidung. Ähnlich wie die Zwerge trug er eine Art Kniebundhose und darüber ein Leinenhemd, dessen ehemals weiße Farbe nun fleckig und vergilbt war. Der zerrissene Saum hing unordentlich über den Hosenbund, die bauschigen Ärmel reichten ihm bis über die Handgelenke. Um den Hals trug er eine Art Tuch, das mehrmals gewickelt und nachlässig geknotet war. Vielleicht hatten ihn die Zwerge gezwungen, ein paar abgetragene Klamotten von ihnen anzuziehen? Andererseits hätten die ihm sicher nicht gepasst, denn er überragte selbst mich um mehr als einen Kopf. Dabei war er sehr schlank, nur unter dem Stoff des Hemdes zeichneten sich muskulöse Oberarme ab. Seine Beine und Füße waren nackt, kein Wunder bei den Tropentemperaturen in der Küche.
    Irgendwie erinnerte er mich an ein Porträt auf einem dieser Ölschinken, wie sie in den Museen hängen. Von Rembrandt oder so. Mit meiner knielangen Wanderhose und den Bergstiefeln erinnerte
ich
dagegen wahrscheinlich eher an die Geierwally. Ein paar Sekunden starrten wir uns stumm an.
    »Die da wird auch hier arbeiten«, verkündete der eine Zwerg. Er ließ mich los und stieß mich rüde nach vorne.
    »Sieh zu, dass sie keinen Unsinn macht, sonst wirst du dafür büßen«, befahl der zweite Gnom. »Und mach keinen Unsinn mit ihr, sonst wirst du

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