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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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hier unten?«, fragte ich neugierig. Wenn ich mit ihm in der Küche arbeiten sollte, konnte ich ihn genauso gut ein bisschen besser kennenlernen. Bei meiner Frage glitt ein Schatten über sein Gesicht, und eine düstere Wolke schien das klare Blau seiner Augen – erst jetzt fiel mir auf,
wie
blau sie waren – zu verdunkeln. »Es kommt mir vor, als seien Jahre vergangen, seit die Zwerge mich in ihr Reich brachten, doch das kann nicht sein«, sagte Jonathan düster. »Ich habe zuerst versucht, für jeden Tag eine Kerbe in die Wand zu ritzen, doch da man hier unten nie die Sonne oder den Mond sieht, verlor ich jegliches Gefühl für die Zeit.« Er brach ab und sah betrübt zur Decke des niedrigen Raumes.
    Ich ahnte, was er dachte. Die Oberwelt lag viele Meter, vielleicht Kilometer entfernt über unseren Köpfen. Auf einmal schien ihm ein Gedanke zu kommen, denn er blickte mich an und fragte gespannt: »Aber du kamst erst vor wenigen Stunden. Welches Datum zählen wir?«
    »Den 24 . Juli ’ 87 «, gab ich zur Antwort. Jonathan blickte mich erstaunt an.
    »Ich kam im Monat Juno hier herunter. Dann sind es nur etwa dreiundzwanzig Tage, seit ich Laurins Gefangener wurde«, rief er. »Wie merkwürdig.«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Na ja, sie lassen dich hier am laufenden Band in der Küche ackern. Da ist es kein Wunder, wenn du das Gefühl hast, seit einer Ewigkeit hier zu sein. Hast du denn nie versucht, die Biege zu machen?«, fragte ich. Jonathan sah mich verständnislos an. »Na, abhauen … also, die Flucht ergreifen«, verdeutlichte ich und fragte mich langsam, ob Jonathan hier unten versehentlich an getrocknete Magic Mushrooms geraten war oder ob es sich bei dem Spruch »schön, aber dumm« vielleicht doch um kein bloßes Vorurteil handelte.
    »Oh, das meinst du. Natürlich habe ich es versucht«, erwiderte er. Ich sah ihn abwartend an. Er zuckte mit den Schultern. »Kurz nach meiner Gefangennahme habe ich mich im großen Felsensaal in einer Nische verborgen. Ich hatte vor, mich zum Ausgang zu schleichen, sobald die Zwerge sich zerstreut hatten, um tief im Berginneren nach Erzen und Edelsteinen zu schürfen. Damit verbringen sie oft ihre Tage«, erklärte Jonathan.
    »Und?«, bohrte ich, weil er nicht weitersprach. Einen Moment lang sah er mich schweigend an, dann schob er den Ärmel seines Hemdes hoch. Vor Schreck sog ich heftig die Luft ein. Auf seinem rechten Unterarm prangte ein hellrotes Mal. Es sah noch ganz frisch aus, blutete aber nicht. »Was ist das?«, flüsterte ich erstickt.
    »Ein Souvenir vom König höchstpersönlich. Mit einem glühenden Eisen in die Haut gestanzt, damit ich ja nicht vergäße, wie er mit Deserteuren verfährt«, erläuterte Jonathan in betont gleichgültigem Ton.
    Aber ich sah in seinen Augen die Erinnerung an den Schmerz. Eine unbändige Wut auf Laurin und seine gemeine Zwergenmeute überkam mich. Anscheinend merkte Jonathan, wie es in mir brodelte, denn er schüttelte den Kopf. »Versuche nicht dasselbe wie ich, Emma. Die Zwerge sind unmenschlich stark, und ihr König ist der grausamste von allen«, warnte er.
    »Aber … ich muss hier weg!«, rief ich panisch. »In ein paar Tagen bin ich sonst Laurins Eigentum, hast du vorhin nicht zugehört?« Doch Jonathan sah mich nur schweigend an. Seine Miene war mitleidig, aber er sagte oder tat nichts, um mich zu unterstützen.
    »Du hast Schiss«, warf ich ihm verächtlich an den Kopf. »Du bist zu feige, es noch mal zu versuchen, stimmt’s?«
    Wieder schwieg er längere Zeit, ehe er nur sagte: »Ich begreife sehr wohl, dass du einer Heirat entkommen willst, Emma. Vielleicht besser, als du denkst …« Er unterbrach sich, dann fuhr er hart fort: »Jedoch bist du naiv, wenn du glaubst, dass es dir gelingt. Laurin wird rasen vor Zorn, wenn er hinter deine Pläne kommt oder dich gar bei einem Fluchtversuch stellt!«
    Ich schnaubte. »Dann darf er eben nicht dahinterkommen, Mann!«, meinte ich und verdrehte die Augen. Glaubte Jonathan, ich wäre noch mal so dämlich, vor aller Zwergenaugen einen Blitzstart quer durch die Felsenhöhle zu machen?
    Er blickte mich an, und ich glaubte, einen Anflug von Traurigkeit in seinem Gesicht zu sehen. »Das kleine Volk ist stets wachsam. Sie schlafen nie alle zur selben Zeit. Vor allem jetzt wird Laurin mit Argusaugen darüber wachen, dass ihm seine Braut nicht entkommt. Nicht noch einmal«, murmelte er.
    Ich stutzte. »Kennst du die Legende von der schönen Similde?«
    Jonathan lachte leise.

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