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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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vor Augen, wie ich in einem weißen Kleid im Felsensaal stand, neben mir der bucklige, stinkende Zwergenkönig.
    Allein bei der Vorstellung, er könnte meine Hand nehmen, um mir einen Ring anzustecken, stieg ein Brechreiz meine Kehle hoch. Und sosehr ich mich auch bemühte, nicht daran zu denken, ich konnte nichts gegen die grässlichen Bilder tun, die durch meinen Kopf geisterten: Laurin, der auf krummen Beinen in die Felsenkammer kam, in die er mich nach der Hochzeit eingesperrt hatte. Seine ekelhaften Spinnenfinger, die sich nach mir ausstreckten. Sein zerrüttetes Gesicht mit dem breiten Krötenmund und den fauligen Zähnen, das immer näher kam, um mich zu küssen …
    Erstickt schrie ich auf, und heftiger Ekel schüttelte mich. Gegenargumente fruchteten ja nicht, also wirbelte ich herum und rannte los, auf den dunklen Gang zu, durch den ich vorhin von den Zwergen geschleppt worden war. Ob ich in der nachtschwarzen Finsternis stolpern und fallen würde, war mir jetzt egal. Ich wollte einfach nur weg.
    »Ergreift sie«, gellte Laurins Stimme durch den steinernen Saal und wurde als vielfaches Echo von den Felswänden zurückgeworfen. Und schon spürte ich den eisernen Griff zweier Zwergenklauen um meine Oberarme, die mich heftig zurückrissen. Meine Flucht war vorbei, ehe ich fünf Schritte getan hatte. Doch ich war nicht bereit, einfach aufzugeben. Ich wand mich wie ein Aal und trat um mich, jedoch vergebens. Genauso gut hätte eine Maus versuchen können, sich aus den Krallen einer Raubkatze zu befreien. Nicht nur Laurin, auch die übrigen Zwerge verfügten über enorme Kräfte, denen ich nicht gewachsen war. Erbarmungslos schleiften sie mich zurück zu ihrem König.
    Der hatte seine kurzen Ärmchen in die Seite gestützt und beobachtete meine Gegenwehr wie ein amüsantes Schauspiel. Auf einmal überkam mich blinder Zorn auf diesen abstoßenden Zwerg und seine völlige Ignoranz der Tatsachen, dass ich weder Similde war noch seine Frau werden wollte. Voller Verachtung sah ich ihm mitten ins Gesicht.
    »Ich heirate dich nicht! Niemals! Du bist hässlich und stinkst«, spuckte ich ihm entgegen. Ich hörte, wie die Zwerge kollektiv nach Luft schnappten. Mir aber war es in diesem Moment völlig egal, ob Laurin zornig werden würde. Lieber würde ich sterben, als dieses monströse Geschöpf auch nur in meine Nähe zu lassen. Doch der schien zunächst eher verblüfft als verärgert zu sein. Er beäugte mich forschend, als wäre ich ein kleiner bissiger Chihuahua, der zuschnappte, sobald man mit ihm spielen wollte.
    Nach einigen Sekunden des Schweigens schüttelte der Zwergenkönig nur den Kopf und wandte sich von mir ab. »Sarhild, verbringe meine Braut in ihr Gemach. Friederun und Hallgard, ihr näht ihr das Kleid«, ordnete er an, als wäre ich gar nicht da. Sarhild, Hallgard?, dachte ich verwirrt. War ich bei den Wagnerfestspielen in Bayreuth gelandet?
    Da wieselten schon drei der gedrungenen Wesen auf mich zu. Sie unterschieden sich nur durch ihre Kleidung von jenen Zwergen, mit denen ich bereits unangenehm Bekanntschaft gemacht hatte. Statt schmutziger Kniehosen mit einem fleckigen Hemd darüber trugen diese drei jeweils eine Art zerlumpte Kittelschürze und einfache Holzpantinen. Anscheinend waren das die Zwergenfrauen. Leider waren sie keinen Deut hübscher oder gepflegter als die männliche Ausgabe. Ihre Gesichter waren zerknautscht, alles schien sich dort auf engstem Raum zusammenzudrängen: Die Augen standen dicht beieinander, und die Spitzen ihrer großen Nasen berührten fast die Oberlippe. Wie eine Horde hungriger Raubtiere umzingelten sie mich.
    Währenddessen fuhr Laurin fort: »Radbod, Thoralf und Yngve mögen auf die Jagd gehen, damit das Wildbret zum Hochzeitsmahl gut abgehangen ist.«
    Ich geriet langsam in Panik. Der König scherte sich keinen Deut um meinen Protest, sondern trieb die Heiratsvorbereitungen munter voran! Obwohl ich wusste, dass ein weiterer Fluchtversuch genauso sinnlos wie der erste wäre, glitt mein Blick auf der Suche nach einem Ausweg durch die Felsenhöhle. Da stieß mich eine der Zwerginnen grob in die Seite. »Vorwärts«, raunzte sie mich an. Ihre Stimme klang nur ein wenig höher und schriller als die der männlichen Exemplare. Ich stolperte zwei Schritte nach vorne und wäre fast gegen die Ecke der langen Festtafel gestoßen. Erneut sah ich die Silberplatten, auf denen tatsächlich halbe, gebratene Hühner und riesige Keulen von irgendwelchen anderen toten Tieren lagen. In

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