Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
Vom Netzwerk:
den Braten steckten ziemlich große, zweizinkige Gabeln.
    Ich überlegte keine Sekunde. Mit einem Sprung war ich am Tisch und zog am Griff eines dieser Esswerkzeuge. Die Zinken fuhren mit einem schmatzenden Geräusch aus dem gebratenen Fleisch, das mir als überzeugte Tierfreundin und Vegetarierin durch Mark und Bein ging. Die Vorstellung, wie die Zwerge lachend und johlend ein Rehkitz jagten, ehe sie es zu Fall brachten und ihm die Kehle durchschnitten, fachte meine Wut zusätzlich an. Ich hielt die Fleischgabel wie eine Waffe in der Hand und schrie die überraschte Zwergenfrau an: »Fass mich nicht an! Sonst mache ich Schaschlik aus dir!«
    Sie starrte mich an. »Schaschlik?«, fragte sie ratlos. Ich hatte keine Lust auf einen Exkurs in die Rezeptvielfalt der modernen Küche, daher fuchtelte ich nur drohend mit meinem provisorischen Zweizack herum. Mein Herz hämmerte vor Aufregung gegen meine Rippen, trotzdem war ich bereit, jeden Zwerg, der sich mir in den Weg stellen sollte, zu verletzen. Ich wollte nicht mehr argumentieren, ich wollte hier weg. Vor allem von dem hässlichen, stinkenden König, der stur an der Vorstellung festhielt, ich sei die Frau seines erbärmlichen Zwergenlebens hier unten in der lichtlosen Höhle.
    Laurin war aber offenbar nicht bereit, mich kampflos aufzugeben. Mit der Schnelligkeit eines Skorpions bewegte er seinen plumpen Leib auf mich zu. Die Vorstellung, er würde mich anfassen, ließ mich alle Furcht vergessen. Schreiend sprang ich auf ihn zu und schwang die Gabel. Noch ein Schrei ertönte, doch diesmal kam er aus dem Mund des Herrschers über die Zwerge. Fassungslos starrte Laurin erst mich an, dann auf den Ärmel seines Hemdes. Dessen schmutziges Weiß färbte sich langsam rot. Ich hatte ihm das Esswerkzeug mit Wucht in den Arm gerammt. Und er musste in meinem Blick gelesen haben, dass ich es noch einmal tun würde.
    Er kniff die Lippen zusammen, und seine kleinen Rosinenäuglein schrumpften zu finsterschwarzen Punkten. »Bringt sie in die Küche. Dort soll sie drei Tage und Nächte schuften. Danach wird sie sich glücklich schätzen, meine Frau zu werden«, bellte er und machte eine auffordernde Kopfbewegung zu seinen Getreuen hin. Ehe ich noch einen Finger rühren konnte, hatten mich drei Zwerge bereits umzingelt und mir blitzschnell die Gabel aus den Fingern gewunden. Dann drehte mir einer von ihnen grob den Arm auf den Rücken und stieß mich vor sich her quer durch den Saal. Trotzdem hörte ich noch Laurins letzte Worte: »Bringt mir meinen Ring zurück, hört ihr? Wem es gelingt, der soll reichen Lohn erhalten. Drei Wünsche will ich demjenigen erfüllen, der ihn mir wiedergibt!«
    Ich wünschte verzweifelt, es wäre mir gelungen, Udo den Schmuck wieder abzunehmen. Dann hätte ich jetzt lässig das kostbare Stück aus meiner Tasche ziehen und dem Zwergenkönig präsentieren können. Natürlich wäre mein erster Wunsch gewesen, sofort wieder an die Oberfläche gebracht zu werden. Und der zweite, nie wieder im Leben einen Zwerg zu Gesicht zu bekommen. Aber Udo hatte den Ring eingesteckt, und meine Chancen, aus Laurins Reich zu entkommen, schwanden mit jeder Sekunde.

[home]
    Kapitel 3
    A lso noch mal: Wer von euch hat Emilia Wiltenberg zuletzt gesehen?« Obwohl Spindler sich bemühte, seine Stimme ruhig klingen zu lassen, war die Anspannung deutlich herauszuhören, während er seinen Blick auffordernd über die Schülergruppe schweifen ließ. Auch die Kollegin Müller sah nicht mehr so frisch und munter wie am Morgen aus. Ihre gerunzelte Stirn und die zusammengepressten Lippen verrieten ihre Sorge um die vermisste Studentin. Die meisten aus der Schülergruppe schüttelten den Kopf oder zuckten bedauernd mit den Schultern. Udo starrte auf die Schnürsenkel seiner Wanderschuhe, um nicht den Blicken seiner Lehrer begegnen zu müssen. Er hatte keine Lust zuzugeben, was zwischen ihm und dieser Wiltenberg vorgefallen war. Wer konnte auch ahnen, dass die dumme Kuh einfach verschwand?
    »Udo, haben Sie nicht noch mit Emilia gesprochen?«, riss ihn Spindler aus seiner dumpfen Grübelei. Udo sah auf. Die Worte des Lehrers hatten sein schlechtes Gewissen aktiviert, und einen Augenblick lang war er versucht, die Wahrheit zu sagen und den älteren Lehrer zu der Stelle zwischen den Findlingen zu führen, wo Frank und er die junge Frau zurückgelassen hatten.
    Dann aber stahl sich seine Hand in die Hosentasche, und er fühlte das Gewicht des Goldrings, der dort ruhte, verborgen vor den

Weitere Kostenlose Bücher