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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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»Wer kennt sie nicht. Und so, wie sie in der Mär beschrieben wurde, gleichst du ihr wahrhaftig«, sagte er und musterte mich eingehend.
    Prompt wurde ich verlegen. Ich hatte schon einige Male gehört, dass ich hübsch war. Eine Tante meiner ehemaligen Pflegemutter hatte einmal gesagt, ich würde später »eine richtige Schönheit« werden. Worauf meine Pflegemutter die Lippen zusammenkniff und meckerte, dass man mir keinen Floh ins Ohr setzen sollte. Auch Caro hatte schon oft neidlos hingerissen festgestellt, dass ich »echt toll« aussah, und natürlich hatte ich auch die Blicke der Jungs in der Uni, auf Feten und auf der Straße registriert, die mir folgten. Ich selbst fand mich mit meiner fast durchsichtigen Haut immer zu blass und zu sommersprossig – das Schicksal der Rothaarigen. Im Sommer war ich im Freibad die Schattenpflanze, die in jeder Bikinifarbe aussah wie ein Stück Quark.
    »Du bist bescheuert, Emmi! Was würde ich darum geben, wenn ich deine roten Haare und diese graugrünen Augen hätte! Mit ein bisschen mehr Make-up und einem Hauch Lippenstift könntest du echt jede Hollywood-Diva ausstechen. Ach ja, und ein Rock statt der ewigen Jeans würde auch helfen«, hatte Caro oft geseufzt und mich ständig zu überreden versucht, »doch etwas mehr aus meinem Typ zu machen«.
    Ich hatte jedes Mal genervt abgewinkt und argumentiert, dass ich mit Stöckelschuhen und Minirock wohl kaum mein Sport-Studium bestünde. Geschweige denn stundenlang vor einer Klasse herumstehen könnte. In Wirklichkeit aber mochte ich es, in bequemen Turnschuhen herumzulaufen und mich nicht in aller Frühe schon eine Stunde lang im Badezimmer mit Make-up und Lippenstift befassen zu müssen. Und mein erster fester Freund Mattis, den ich kurz vor dem Abi kennengelernt hatte, liebte mich auch ohne Schminke. Leider liebte er ein Jahr später Kitty aus dem Englischkurs noch ein bisschen mehr. Die ging zweimal die Woche ins Solarium, trug Make-up wie Tapetenkleister, und wo ihr Lippenstift bei Mattis überall kleben blieb, wollte ich mir gar nicht ausmalen. Ich vergoss ein paar Tränen, ließ mich von Caro mit Schokolade füttern – Vollmilch-Nuss, meine Lieblingssorte –, und nach einer Woche konnte ich schon wieder lachen. Seufzend musste ich mir danach eingestehen, dass Mattis offenbar nicht die große Liebe gewesen war.
    Die nächste Beziehung ging ich an der Uni ein, nachdem Tom drei Wochen am Stück gebaggert hatte. Mit Briefchen am Fahrradlenker, in denen er mich um ein Date bat, und mit einer selbst aufgenommenen Kassette voller Romantiksongs. Angefangen bei Cindy Laupers »Time After Time« über »One More Night« von Phil Collins bis hin zu Spandau Ballets »Through The Barricades«. Zuletzt folgte die Einladung in eine Nobel-Pizzeria, die er sich als Student im vierten Semester eigentlich nicht leisten konnte. Leider war die Pizza das Beste an der ganzen Beziehung. Fünf Monate nachdem wir endlich ein Paar geworden waren, scheiterten wir auch schon wieder. Tom hatte vor, ins Unternehmen seines Vaters einzusteigen, nebenbei zu promovieren und am besten auch gleich zu heiraten. Ich wusste noch nicht mal, ob ich meinen Uni-Abschluss machen würde, ich wollte in der Welt herumreisen, ein Café eröffnen und ans Heiraten frühestens mit dreißig denken. Zwar drängte mich Tom, meinen Traum vom Kochen zu verwirklichen – jedoch am besten bekleidet mit einer Schürze an
seinem
künftigen Herd, in
seinem
zukünftigen Haus. Den Tiefpunkt erreichten wir, nachdem ich Tom beim Training im Hundertmeterlauf geschlagen und gewitzelt hatte, ich hätte vielleicht doch auf meine beste Freundin hören und einmal im Leben hohe Schuhe anziehen sollen.
    Caro hatte schon einige Tafeln Nuss-Schokolade auf Vorrat besorgt. Danach hatte ich mir geschworen, mich erst nach dem Studium das nächste Mal zu verlieben. Ich wollte einen richtig guten Typen. Sanft und stark, gutaussehend, aber nicht eingebildet. Selbstsicher, aber nicht arrogant.
    Und jetzt? Drohte die Zwangsehe mit einem Zwerg, der mir gerade bis über den Bauchnabel reichte, zum Davonlaufen aussah und roch wie ein Zwiebelmettbrötchen, das ein Teilnehmer der Tour de France zudem noch zwei Stunden lang unter den Arm geklemmt mit sich herumgetragen hatte.
    Nein, dachte ich erneut, diese Hochzeit durfte definitiv nicht stattfinden.
    Mit aller Kraft verdrängte ich die Gedanken, die sich immer wieder in meinen Kopf schleichen wollten. Doch ständig tauchten Bilder einer Hochzeitsnacht

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