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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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dafür ebenfalls büßen«, kicherte der dritte und fügte hinzu: »In drei Tagen wird sie des Königs Frau.«
    »Eher friert die Hölle zu!«, gab ich zurück und funkelte die Zwerge wütend an. Doch die lachten nur dreckig und wandten sich zum Gehen. »Diesmal entkommst du unserem Herrscher nicht, Similde«, sagte einer von ihnen noch, dann fiel die morsche Küchentür hinter ihnen zu.
    »Ich heiße Emma, verdammt!«, brüllte ich ihnen nach, obwohl ich wusste, dass sie mich nicht mehr hörten und es ihnen auch völlig egal war, wie ich hieß.
    »
Enchanté,
Emma. Ich hoffe, die Zwerge haben dir nichts zuleide getan? Mein Name lautet übrigens Jonathan«, sagte der Junge mit einer tiefen, etwas heiseren Stimme, und zu meiner grenzenlosen Verblüffung verbeugte er sich knapp.
    Na prima, dachte ich resigniert, nun war ich für kurze Zeit den fiesen Zwergen entkommen – und der einzige Mensch außer mir warf mit französischen Floskeln um sich und machte in der schmuddeligen Zwergenküche einen auf Napoleon. Wahrscheinlich war er hier unten einfach irgendwann durchgeknallt. Was mich nicht wunderte, bei dem dauernden Funzellicht der Pechfackeln, die es unmöglich machten, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden. Und dazu noch die rabiaten Gnome, die so ganz anders waren als in den Märchen beschrieben. Ich hatte mir ja auch nicht ausmalen können, dass es diese Wesen tatsächlich gab, und wenn, hatte ich mir Zwerge immer niedlich und nett vorgestellt. Wie in den Zeichentrickfilmen eben. Die Wirklichkeit sah leider anders aus.
    »Den ganzen Schlamassel haben wir nur Walt Disney zu verdanken!«, rief ich in einer plötzlichen Aufwallung von Zorn. Schließlich hat der amerikanische Filmproduzent Millionen von Kindern verblödet, indem er ihnen vorgaukelte, Zwerge würden saubere Kleider und lustige Bärte tragen, Laternen schwenken und putzige Lieder singen.
    »Und keiner von ihnen hätte sich erdreistet, Schneewittchen zu heiraten! Die wussten eben noch, was sich gehört!«, fügte ich giftig hinzu.
    Jonathan hatte die ganze Zeit geschwiegen. Jetzt musterte er mich mit einer Mischung aus Neugierde und Skepsis. »Bestimmt bist du sehr aufgewühlt, was Wunder. Stimmt es, was der Zwerg sagte? Sein König will dich heiraten?«, fragte er. Trotz seiner etwas gestelzten Art zu reden schien er echtes Mitgefühl mit mir zu haben. Ich wollte ihm eine möglichst coole Antwort geben, aber stattdessen brach ich in Tränen aus. Ich weinte meine ganze ausgestandene Angst und mein Heimweh nach Caro heraus. Was hätte ich darum gegeben, wenn ich in ihrem Zimmer wäre und wir, wie so oft, zusammen auf dem Bett hocken, Tee trinken und einfach stundenlang quatschen könnten. Die Aussicht, sie vielleicht nie wiederzusehen, zerriss mir beinahe das Herz. Dazu überflutete mich die Panik, weil ich in wenigen Tagen dem ekelhaften Zwergenkönig gehören sollte. Ein regelrechter Tränensturzbach rann mir aus den Augen.
    Auf einmal wurde mir ein sauberes, weißes Stoffstück vors Gesicht gehalten. Ich griff danach und sog schluchzend den Atem ein. Ein zarter Blumenduft drang in meine Nase. Das hätte ich inmitten der stinkenden Zwergenbehausung und der Küche, die nach einer Mischung aus verkokeltem Braten und Holzfeuer roch, nicht erwartet. Vor Überraschung vergaß ich sogar zu weinen und vergrub meine Nase tief in dem duftenden Tüchlein. »Rosenwasser«, hörte ich Jonathan sagen. Mit verheulten Augen blickte ich auf. Obwohl er respektvoll Abstand zu mir hielt, lächelte er leicht.
    »Laurins Rosen haben einen sehr starken Duft. Manchmal gelingt es mir, eine der Zwergenfrauen dazu zu bewegen, mir ein paar abgefallene Blätter mitzubringen. Man muss sie nur mit siedendem Wasser übergießen und den Sud ein paar Stunden ziehen lassen. Es ist das Einzige, was gegen den Odeur der Zwerge etwas auszurichten vermag«, erklärte er und sah mich mit hochgezogener Augenbraue vielsagend an.
    Obwohl ich mich immer noch elend fühlte, musste ich nun doch etwas grinsen. »Am besten sammelst du den gesamten Rosenwasserbestand in dem großen Kessel da und kippst ihn in einem günstigen Augenblick über den ganzen Haufen dieser miefenden Kerle«, erwiderte ich kläglich.
    Jonathan seufzte. »Nichts lieber als das, aber die Zwerge hassen Wasser, und ihre Rache wäre fürchterlich, glaube mir.«
    Unwillkürlich dachte ich an die Hinrichtung vorhin. Offenbar hatte aber auch Jonathan schon mit ihrer Brutalität Bekanntschaft gemacht. »Seit wann bist du denn

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