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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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mich springflutartig und drang mir wie schmutziges Brackwasser in Mund und Nase. Ich bekam keine Luft mehr, und die Worte »alles umsonst« dröhnten in meinem Schädel. Ich hielt mich an der Tischkante fest, um nicht erneut ohnmächtig zu werden.
    Schon spürte ich Laurins ledrig-dürre Finger, die meinen Arm umschlossen und mich grob von meinem Stuhl zerrten. Tränen der Verzweiflung schossen mir in die Augen und ließen die leergegessenen Schüsseln auf dem Tisch zu einer wabernden, trüben Masse verschwimmen. Ich war verloren. Nichts würde die Heirat mit dem abscheulichen Zwergenkönig verhindern können, und was mir danach bevorstand, daran wollte ich erst gar nicht denken.
    In dumpfer Hoffnungslosigkeit gefangen, bemerkte ich zuerst kaum, wie Laurins Griff sich lockerte. Ich taumelte sogar noch zwei Schritte weiter, ehe ich registrierte, dass ich nicht mehr festgehalten wurde. Überrascht blieb ich stehen. Statt des erwarteten barschen Befehls, gefälligst nicht zu zögern, hörte ich neben mir ein Ächzen. Hastig wischte ich mir über die Augen und sah nun klarer. Die Szenerie in der Felsenhöhle hatte sich binnen weniger Sekunden völlig verändert.
    Der Rote Fingerhut hatte seine Wirkung entfaltet und die rabiate Zwergenhorde in eine jammernde Schar des Elends verwandelt. Einige torkelten wie blind durch die Felsenhalle, wobei sie gegen die Tischkanten stießen oder über Hocker stolperten, andere lagen am Boden, wo sie sich stöhnend krümmten. Mein Blick fiel auf Laurin. Das Oberhaupt der Zwerge sah auch nicht gerade gesund aus. Seine Pupillen waren so weit nach oben gedreht, dass man nur seine gelben Augäpfel sah, und weißlich grüner Schaum quoll aus seinem Mund. Mühsam und scheinbar mit letzter Kraft hielt er sich auf den Beinen, doch ein unkontrolliertes Zittern schüttelte seinen plumpen, gedrungenen Körper und ließ ihn ziellos hin und her torkeln.
    Auf einmal wurde ich am Handgelenk gepackt. Ich schrie angstvoll auf, doch im selben Moment vernahm ich Jonathans dunkle Stimme und erkannte, dass er es war, der meine Hand umklammert hielt. »Rasch, Emma, das ist die Gelegenheit!«, drängte er und zog mich mit sich. Ich verschwendete keinen Blick mehr an Laurin und sein Volk, sondern raffte das Kleid und rannte hinter Jonathan durch die Felsenhalle, wobei ich im letzten Moment verhindern konnte, über einen Stapel Goldkelche und Edelsteine zu stolpern. Ich verschwendete keinen Gedanken daran. Ich wollte keinen der Schätze mitnehmen, ich wollte nur noch hier raus.
    Das Klagen, Ächzen und Würgen aus Zwergenkehlen verfolgte uns, während wir in Richtung des steinernen Bogens hetzten, der in den Tunnel mündete. Da erhob sich über den Lärm die Stimme des Königs: »Meine Braut flieht! Haltet sie!«
    Und obwohl ich dachte, die Zwerge wären kurz davor, vor ihren Schöpfer zu treten – wer immer das sein mochte –, rappelten sich doch zwei von ihnen auf und setzten uns schwerfällig nach. Der eine brach schon nach drei Schritten in die Knie, um anschließend wie ein nasser Sandsack auf den Boden zu klatschen. Der andere aber war zäh, und es gelang ihm, meine Zöpfe zu greifen. Ich wurde jäh zurückgerissen, stolperte und machte eine halbe Drehung, wobei ich fast gegen den Zwerg prallte, der mich gestoppt hatte. Ich blickte ihm direkt ins Gesicht und erschrak. Es war bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, wahrscheinlich von den Schmerzen, die ihm das Gift bereitete. Aus seinem Mund troff blutiger Speichel und lief ihm übers Kinn. Auch seine Augen waren rotunterlaufen, doch sie funkelten in mörderischer Wut.
    Ich versuchte, mich loszureißen, aber seine Hände krallten sich wie in einem Krampf in mein Haar und hielten eisern fest. »Jonathan«, schrie ich, »hilf mir!«
    Er wirbelte herum und erfasste mit einem Blick meine Notlage. Ehe der Zwerg noch eine Bewegung machen konnte, bückte Jonathan sich und schnellte dann in einer fließenden Bewegung nach vorne, wobei er eine Art Ausfallschritt machte. Ich sah einen größeren Gesteinsbrocken in seiner Hand, dann gab es ein hässliches Knirschen. Schwarzes Blut schoss in einer Fontäne aus der Mitte des Zwergengesichts, dort, wo die Nase war. Ein schriller Schrei löste sich aus seiner Kehle, dann öffnete der Gnom die Faust und kippte um. Ich war frei.
    Erneut rannte ich los und sah mich nach Jonathan um, in der Erwartung, er würde mir folgen. Doch der beugte sich noch einmal über den Zwerg und griff in dessen Tasche. Erst dann lief er mir

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