Die gestohlene Zeit
blutrotes Leuchten. »Jonathan«, flüsterte ich und deutete in die Richtung, aus der es kam. Ich hörte ihn scharf den Atem einziehen, als sein Blick meiner ausgestreckten Hand folgte. Ein paar Schritte von uns entfernt stand König Laurins Rosengarten in voller Pracht.
Ohne nachzudenken sprang ich über die goldenen Schnüre am Boden und brach eine der Blüten, deren Knospe erst halb geöffnet war, ab. Ich tat es nicht aus Rache an Laurin oder um etwas zu zerstören, sondern weil ich das untrügliche Gefühl hatte, die Rose könnte mir noch nützlich sein. Als ich den Stiel abbrach, der zu meiner Überraschung keine Dornen aufwies, meinte ich, einen dünnen Schrei zu hören. Ich erstarrte und lauschte, doch nichts außer einem sanften Wind, der über die Rosen strich, war zu vernehmen. Vorsichtig meine Schritte über die goldene Schnur setzend, kam ich bei Jonathan an. »Und nun nichts wie weg hier«, sagte ich. Wir liefen los, als hinter uns das Geräusch von Steinen ertönte, die hinabpolterten. Erschrocken fuhren Jonathan und ich herum, und was ich sah, ließ mich aufschreien: Trotz des Giftes hatte Laurin es geschafft, die Verfolgung aufzunehmen, und nun tauchte sein verzerrtes Gesicht in der Felsöffnung auf. Seine Lippen waren rissig, blutige Tränen liefen aus seinen hervorquellenden Augen. Tastend suchte er Halt zwischen den Felsbrocken, während sein gedrungener Körper sich langsam aus dem Felsstollen ins Freie schob. Immer wieder jedoch strauchelte der König, und seine Finger, deren Nägel nun nicht mehr gelb, sondern vom Gift des Fingerhuts blauschwarz verfärbt waren, kratzten mit dem scheußlichen Geräusch von Kakerlakenbeinen über die Steine. »Similde«, gurgelte er kaum verständlich. »Du … bist … mein …!«
»Emma! Lauf«, schrie Jonathan mir zu und fasste meine Hand. Wir rannten los. Laurins Stimme schwoll an, doch was er rief, konnte ich nicht verstehen. Seine Worte schienen als vielfaches Echo von den Bergen widerzuhallen. Da spürte ich etwas an mir vorbeizischen. Obwohl es mich um mehr als einen halben Meter verfehlte, strahlte es eine Hitze aus, als hätte jemand eine Silvesterrakete nach mir geworfen. Ich schrie erschrocken auf und wurde gleich darauf von Jonathan hinter eine verkrüppelte Kiefer in Deckung gezerrt.
»Was ist das?«, keuchte ich, während ich versuchte, mich so klein und unsichtbar wie möglich zu machen.
»Laurin verfügt über magische Kräfte, vergiss das nicht. Wahrscheinlich schickt er uns einen Zauber hinterher«, raunte Jonathan, der sich ebenfalls tief ins Gras duckte.
Ich konnte nichts mehr erwidern, denn schon gellte Laurins Stimme wieder durch die Berglandschaft, und wie aus dem Nichts materialisierte sich das nächste Geschoss. Hinter den schmalen Baum gekauert, sah ich eine blitzende rot-gelbe Feuerkugel auf uns zuschießen, begleitet von unverständlichen Worten, die der Zwergenkönig mit schäumendem Mund schrie. Jonathan und ich wichen hinter die Kiefer zurück, doch sie war zu schmal, um uns völligen Schutz zu gewähren. Der feurige Ball prallte zwei Handbreit über unseren Köpfen gegen den Stamm, und seine Wucht spaltete den armen Baum. Mit einem Splittern, das mir durch Mark und Bein ging, zerbarst er in zwei Teile, und die Krone fiel krachend knapp neben Jonathan zu Boden. Rauch stieg auf, denn die Hitze des Zaubers hatte einen Teil der Kiefernnadeln versengt.
Doch das war nicht alles. Ein heißes Brennen an meiner linken Schulter ließ mich aufschreien. Zeitgleich hörte ich neben mir Jonathans erstickten Ausruf. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt er sich die rechte Schulter. Scheinbar hatte auch ihn das Geschoss des Zwergenkönigs erwischt.
Erschrocken riss ich den Kopf hoch und sah Laurin, der immer noch versuchte, sich vollends an die Oberwelt vorzuarbeiten. Doch die Kräfte des Herrschers über das Zwergenvolk ließen mit jeder Sekunde sichtbar nach, und er rutschte unaufhaltsam zurück in sein felsiges Reich. Seine matten Bewegungen erinnerten an das hilflose Strampeln eines gefangenen Krebses im Kescher.
»Jetzt«, kommandierte ich, und Jonathan und ich rappelten uns auf und hetzten erneut los. Ich drehte mich nur noch einmal um. Das Letzte, was ich sah, war das zu einer Fratze verzerrte Gesicht Laurins. Das Gift des roten Fingerhuts hatte ihn nicht töten können.
»Es ist … nicht vorbei, Similde«, schrie er mit letzter Kraft. »Finde dich … hole dich …« Er streckte seine krallenartige Hand nach mir aus, dann
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