Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
Vom Netzwerk:
hinterher. Ich hatte nicht erkennen können, was Jonathan an sich genommen hatte, bis wir die Felsenhalle samt den erstickten Schreien von Laurin und seinen Untertanen hinter uns gelassen hatten und in den finsteren Stollen eintauchten. Schlagartig konnte ich nichts mehr sehen.
    Da glimmte auf einmal ein schwaches Licht in der undurchdringlichen Dunkelheit und erleuchtete den steinernen, nassen Pfad. Es kam von einem der merkwürdigen, dunklen Kiesel, die die Zwerge offenbar immer mit sich trugen und mit deren Hilfe sie sich den Weg durch den Felsengang bahnten. Jonathan war wirklich schlau, dachte ich und schenkte ihm ein anerkennendes Lächeln über die Schulter. Dabei wäre ich fast über den Saum meines langen Kleides gefallen. »Das Ding nervt«, rief ich und blieb stehen, um den langen, bauschigen Rock zu raffen. Darunter kamen meine Kniebundhose und die derben Wanderstiefel zum Vorschein. Nicht gerade Haute Couture, aber ich war sowieso noch nie der Typ für diesen Barbie-Look gewesen.
    »Permettez?«,
fragte Jonathan, und ehe ich noch in meinem Gedächtnis gekramt und seine Frage mit »Darf ich?« übersetzt hatte, zog er schon mit einem kräftigen Ruck am Stoff des Brautkleids knapp unterhalb meiner Hüfte. Ein reißendes Geräusch ertönte, und innerhalb kürzester Zeit war ich von dem hinderlichen, langen Rock befreit. Er hatte wirklich Kraft, dachte ich und fühlte mich prompt wie Scarlett O’Hara in
Vom Winde verweht,
als Rhett Butler sie einfach packt und diese riesige, geschwungene Treppe hochträgt. Nur, dass Scarlett keine Wanderschuhe, sondern zierliche Ballerinas oder so etwas getragen hatte. Trotzdem bekam ich unsinnigerweise Herzklopfen, als ich Jonathan so dicht vor mir stehen sah. In diesem Moment blickte er hoch, und unsere Blicke trafen sich. Hatte er meine Gedanken gelesen? Ich schluckte. Für eine lange Sekunde schien die Luft in dem nasskalten Felsengang zwischen uns zu flirren und sich um ein paar Grad zu erwärmen.
    Gleich darauf rief ich mich energisch zur Ordnung. War ich eigentlich noch ganz dicht, hier im stockfinsteren Stollen, ein paar vergiftete Zwerge auf dem Gewissen, irgendwelche Romantikphantasien zu entwickeln? Noch dazu mit einem Jungen, den ich kaum kannte? Das musste die Aufregung der vergangenen Tage sein.
    Zum Glück war Jonathan inzwischen fertig und schleuderte die Fetzen des Stoffs beiseite. »So geht es besser, denke ich«, sagte er knapp, ehe er sich wieder an die Spitze setzte und weiterstapfte. Schweigend liefen wir hintereinander durch den Schacht des Berges, der sich endlos zu schlängeln schien. Immer wieder sah ich mich ängstlich um und horchte in die Schwärze, ob die Schritte eines Verfolgers erklangen, doch nur das Knirschen meiner Sohlen und mein stoßweiser Atem waren zu hören. Vor mir lief Jonathan – barfuß. Ich wagte ihn nicht zu fragen, ob er Schmerzen hatte, denn auf meine vorsichtige Bemerkung, wo denn seine Schuhe abgeblieben waren, war seine Antwort nur ein abweisendes Schulterzucken gewesen.
    Nach einer gefühlten Ewigkeit stieg der Weg plötzlich an, wurde immer steiler, und der Höhlengang füllte sich mit schiefergrauem Dämmerlicht. Unwillkürlich beschleunigten wir unsere Schritte. Der Weg machte noch eine Biegung – und dann standen wir vor dem schmalen Felsspalt, durch den die Zwerge mich vor ein paar Tagen ins Innere von Laurins Reich geschubst hatten.
    Vor Erleichterung wurde mir schwindlig. Gleichzeitig durchströmte mich eine Energie, wie auf den letzten Metern beim Langstreckenlauf, wenn man das Gefühl hat, trotz der Erschöpfung auf einmal zu fliegen.
    »Wir haben es geschafft«, schrie ich und stürzte nach draußen. Frische, klare Luft strömte in meine Lungen, und ich atmete gierig und in vollen Zügen die wiedergewonnene Freiheit. Voller Begeisterung drehte ich mich zu Jonathan um. »Wir haben es geschafft«, wiederholte ich noch einmal leise. Und setzte ein »Danke« hinzu. Er lächelte mich strahlend an, dann legte er den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel, wo gerade eine blaugrüne Morgendämmerung die Nacht ablöste. Einige Sterne und ein dünner, bleicher Halbmond leuchteten noch tapfer gegen den heraufziehenden Tag an, doch vergeblich, denn schon flammte am Horizont die orangegoldene Morgenröte auf und ergoss sich über die schroffen Bergspitzen und setzte die Gipfel in Flammen. Schweigend nahm Jonathan meine Hand, und wir betrachteten andächtig das Himmelsschauspiel.
    Da sah ich im Augenwinkel ein

Weitere Kostenlose Bücher