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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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geplanten Flucht beschloss ich, darunter meine knielange Hose anzubehalten, und auch die Wanderstiefel zog ich nicht aus, schließlich musste ich unter Umständen nicht nur schnell, sondern auch über scharfkantigen, felsigen Boden rennen. Zum Glück wirkte der Stoff zwar zart, war aber nicht so durchsichtig, wie ich zuerst befürchtet hatte. Nichts wäre schlimmer gewesen, als halb nackt vor Laurin und seine gemeine Zwergenschar treten zu müssen.
    Wenn ich keine allzu großen Schritte machte, würde mein seltsamer Aufzug unter dem schimmernden Gewand gar nicht auffallen. Das hoffte ich jedenfalls. In diesem Augenblick schob sich auch schon das verrunzelte Gesicht der Zwergenfrau durch den Türspalt. »Vorwärts«, kommandierte sie ungeduldig, »unser geliebter König wartet bereits!«
    Dann drehte sie den Kopf und raunzte: »He, Faulpelz! Eil Er sich, und serviere Er die Suppe! Der Herrscher will sogleich nach dem Mahle Hochzeit halten!«
    Der Countdown läuft, dachte ich. Mein Herz, das sowieso die ganze Zeit schon mit doppelter Schlagzahl arbeitete, fing nun an, in meiner Brust zu flattern wie ein Huhn beim Anblick des Schlachtermessers.
    Bitte, lass das Gift wirken, dachte ich und wusste nicht, wen ich eigentlich anflehte. Zudem durfte ich mir meine Aufregung nicht anmerken lassen, denn das war meine einzige Chance. Daher setzte ich eine hochmütige Miene auf und gönnte auch Jonathan, der soeben die Küche betrat, keinen Blick. Möglichst graziös und mit gezierten Trippelschritten, die mir in einer Ballettaufführung des »Nussknackers« alle Ehre gemacht hätten, schwebte ich zur Tür.
    In Wirklichkeit rutschte mir mein Herz ins Bodenlose vor lauter Furcht, die Zwergin könnte in letzter Sekunde das derbe Schuhwerk entdecken. Doch ich hatte Glück und erreichte ohne zu stolpern die große Felsenhalle.
    Am Kopfende der großen Tafel thronte der Zwergenkönig. Als er mich sah, erhob er sich. »Ihr Untertanen! Huldigt der Braut!«, befahl er, und die Zwerge brachen in Jubel aus und schlugen mit ihren Bierhumpen auf den Tisch.
    Laurins Gesicht verzog sich zu einem fratzenhaften Lächeln. »Bald bist du mein, schöne Similde«, raunte er und leckte sich in Vorfreude seine fleischigen Lippen.
    Noch vor ein paar Stunden hatte ich gedacht, ehe ich mich mit dem Zwergenkönig verheiraten ließe, würde ich lieber sterben. Inzwischen hatte ich meine Meinung geändert. Sollte jemand sein Leben lassen, dann würden das nicht ich oder Jonathan sein. Sondern Laurin und sein Volk.

[home]
    Kapitel 6
    M ehr tot als lebendig saß ich an der langen Tafel neben König Laurin und versuchte, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. In der unterirdischen Halle war nichts zu hören außer den Schlürfgeräuschen der Zwerge, die sich über Jonathans Suppe hergemacht hatten. Genau wie beim ersten Mal schlangen die abstoßenden Wichte das Essen mit unverhohlener Gier in sich hinein, ihr Herrscher eingeschlossen. Wenigstens achtete dabei niemand auf mich, sonst hätten die Zwerge gemerkt, dass ich nichts aus der Schale zu mir nahm, die Jonathan der Form halber vor mich hingestellt hatte, wobei er mir einen warnenden Blick zugeworfen hatte. Aber ich hätte sowieso keinen Tropfen von der Suppe gekostet. Schließlich wollte ich am Leben bleiben.
    Vorsichtshalber kippte ich jedoch den Inhalt meiner Schüssel in einem unbeobachteten Moment unter den Tisch auf den Boden. Falls Laurin den Kopf hob, würde es für ihn so aussehen, als hätte ich aufgegessen.
    Eine der zerrupften Hennen kam angerannt und pickte eifrig die gekochten Gemüsestückchen zu meinen Füßen auf. Noch ehe ich reagieren konnte, erstarrte das Federvieh plötzlich und fiel dann einfach um. Ich verspürte eine Mischung aus Erleichterung, weil das Gift tatsächlich wirkte, und Schuldgefühlen wegen des toten Huhns. Zum Glück hatte keiner der Gnome den Todesfall gesehen, der sich zu ihren Füßen ereignet hatte, weil sie munter begannen, ihre Suppennäpfe auszulecken. Viel
zu
munter. Starr vor Schreck saß ich auf meinem harten Stuhl und beobachtete das Zwergenvolk, das keinerlei Anzeichen von Unwohlsein aufwies. Warum wirkte die giftige Pflanze bei ihnen nicht?
    Ein lautes Rülpsen ertönte, und das hässliche Gesicht Laurins tauchte aus seinem Gefäß auf. Er wischte sich mit dem Handrücken über seinen breiten Krötenmund und musterte mit glänzenden Käferaugen seine schmatzende Schar.
    »Nun lasst uns zur Vermählung schreiten«, verkündete er. Panik überschwemmte

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