Die gestohlene Zeit
aber verließen ihn die Kräfte, und er rutschte zurück in seine kalte, lichtlose Welt. Ich wirbelte herum und floh, doch die Drohung des Zwergenkönigs klang noch lange in mir nach.
Erst nach einer halben Stunde schnellen Laufes blieben Jonathan und ich atemlos stehen. Meine Schulter brannte unangenehm, wo ich vom heißen Hauch der magischen Feuerkugel getroffen worden war. Vorsichtig riskierte ich einen Blick auf die Stelle. Zu meiner Erleichterung konnte ich bis auf einen etwas größeren roten Punkt und vier Sprenkel, die darüber verliefen, nichts Schlimmes entdecken. »Alles klar bei dir?«, fragte ich Jonathan. Der zog den Kragen seines Hemdes tiefer, und ich musterte prüfend seine rechte Schulter, an der es ihn erwischt hatte. Auch er hatte eine rote Stelle, bei ihm sah es allerdings eher wie ein verlaufener Pinselstrich aus.
»Es scheint nur das zurückgeblieben zu sein«, stellte er fest.
»Brennt deine Haut auch?«, wollte ich wissen.
»Ein wenig, aber wenn dies der Preis für unsere Freiheit ist, sind wir noch einmal glimpflich davongekommen«, stellte Jonathan fest und strich leicht über die Rötung.
Unwillkürlich glitt mein Blick über seinen muskulösen Oberarm und wanderte daran entlang. Seine Haut hatte die Farbe von Marmor. Gerade als ich mich fragte, ob sie sich so glatt anfühlte, wie sie aussah, fiel mein Augenmerk auf seinen Unterarm, und ich schnappte nach Luft. »Was ist?«, fragte er verwundert, doch ich konnte nur stumm auf die Brandnarbe starren, die Laurin Jonathan mit dem glühenden Eisen als schmerzhafte Strafe für dessen ersten Fluchtversuch verpasst hatte. Das kreisrunde Mal, damals hellrot, schien nun in einem tiefen Burgunderrot zu lodern, genau wie Laurins Rosen. Fast schien es zu pulsieren, so deutlich hob es sich von der Blässe des Arms ab.
»Wie merkwürdig! Es sieht grausamer aus als vormals, schmerzt jedoch im Gegensatz zu meiner Schulter kein bisschen«, wunderte sich Jonathan. Trotzdem verspürte ich bei dem Anblick eine merkwürdige Furcht. Eine Ahnung, dass der Schrecken noch nicht vorbei war.
»Wir müssen ins Tal, und zwar so schnell wie möglich«, ordnete ich an und trabte erneut los. Jonathan nickte und folgte mir.
Um uns herum erhoben sich zahlreiche Gipfel, deren schroffes Grau das ganze Jahr über eine weiße Haube aus Schnee trug, und zu unseren Füßen blühten in einem satten Pink Alpenrosen zwischen den Latschenkiefern. Nur einen Wegweiser konnte ich nirgends entdecken. Unschlüssig blieb ich stehen.
»Weißt du, wie wir von hier in das Dorf am Fuß der Berge kommen?«, fragte ich. Jonathan schüttelte stumm den Kopf. Er biss die Zähne zusammen und atmete gepresst, als hätte er ziemliche Schmerzen. »Tut dir doch der Arm weh?«, sorgte ich mich, da fiel mein Blick auf seine nackten Füße, und unwillkürlich schrie ich auf. Sie waren rot gefärbt, von frischem sowie getrocknetem Blut. Er musste sich beim Laufen die ganzen Fußsohlen zerschnitten haben, kein Wunder bei dem harten Stoppelgras, das hier oben wuchs, und den spitzen, scharfen Steinen, mit denen der Felsengang von Laurins Reich durchsetzt war.
»Du blutest ja«, rief ich und zwang ihn, sich hinzusetzen.
»Es ist nicht so schlimm«, stieß er gepresst hervor, aber ich konnte ihm ansehen, dass er log. Schon sah ich, wie sein Blut das braungelbe Gras färbte.
»So kannst du unmöglich bis ins Tal laufen«, stellte ich fest. Ihn hierlassen und alleine Hilfe holen wollte ich aber auch nicht. Wer konnte wissen, ob es Laurin samt ein oder zwei seiner Untertanen nicht doch aus der Höhle schaffte. Wenn sie Jonathan fanden, würde ihre Rache fürchterlich sein.
Ratlos blickte ich auf meine Hände hinab, in denen ich immer noch die Rose aus Laurins Garten hielt.
»Vielleicht kannst du meine Füße mit zwei Streifen deines Kleides umwickeln, und ich laufe damit weiter«, schlug Jonathan vor, doch ich schüttelte den Kopf.
»Dafür bist du zu sehr lädiert«, erklärte ich. »Du hast überall Schnitte, hier und hier und da auch!« Unabsichtlich tippte ich dabei mit der Rose auf seinen linken Fuß, um ihm zu zeigen, wo überall die Verletzungen waren. Sobald die rote Blume jedoch Jonathans geschundene Haut berührte, hörten die Wunden schlagartig auf zu bluten und schlossen sich gleich darauf wie von Zauberhand.
»Hast du das gesehen?«, rief ich verblüfft, und auch Jonathan starrte perplex auf das Wunder, das sich vor seinen Augen abspielte.
»Die Schmerzen«, flüsterte er
Weitere Kostenlose Bücher