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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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mich fest in den Arm, um wieder einigermaßen klar im Kopf zu werden.
    »Das Mädchen war wegen der bevorstehenden Vermählung sehr aufgewühlt und wollte sich noch die Haare flechten. Dabei hat sie ganz vergessen, selbst eine kräftigende Mahlzeit zu sich zu nehmen«, fuhr er fort.
    Mir blieb die Spucke weg. Wie konnte Jonathan annehmen, ich hätte in Anbetracht der Umstände auch nur einen Hauch Appetit? Dann aber fiel mir unser Plan ein. Er belog den König, damit die giftige Suppe noch vor der Vermählung auf den Tisch kam. Ich musste mitspielen, also rappelte ich mich mit äußerster Willensanstrengung auf und zog mich an einem der groben Tischbeine hoch. Schwankend kam ich zum Stehen.
    Laurin schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Wie unaufmerksam von mir«, jammerte er. »Nun denn. Hallgard wird dir, geliebte Similde, dein herrliches Flammenhaar flechten.« Er wandte sich nun Jonathan zu und befahl schneidend: »Und du bereitest derweil eine kräftige Suppe zu, verstanden? Sie soll mein Liebchen stärken und uns sowie meinem Volk munden, ehe wir zur Vermählung schreiten!«
    Jonathan nickte schweigend, und Laurin wandte sich zum Gehen.
    Kaum schlug die Tür hinter dem König zu, drückte mich die Zwergin mit einem harten Griff auf einen der hölzernen Hocker. »Wehe, du rührst dich eine Elle vom Fleck«, knurrte sie und riss unsanft an meinen Locken.
    »Ich will diese Blumen als Kranz in meine Zöpfe geflochten haben«, quengelte ich, und während die Zwergenfrau genervt schnaubend die Blütenkelche des Fingerhutes zu sortieren begann, suchte ich hastig Jonathans Blick. Er verstand die Frage in meinen Augen und lächelte mir kaum merklich zu – ein Zeichen, dass ich mir keine Sorgen machen solle. Leichter gesagt als getan, denn die vermaledeite Gnomenfrau stellte sich genau zwischen mich und Jonathan, und ich konnte nichts mehr sehen. Mir blieb nur die Hoffnung, dass er gestern gut aufgepasst hatte, wie ich die Suppe zubereitet hatte, und auch die kleingehackten Blätter des Roten Fingerhuts nicht vergessen würde.
    Schweigend musste ich die harten Finger der Zwergin erdulden, die meine Zöpfe derart straff flocht, dass mir vor Schmerz die Tränen in die Augen schossen. In der Küche war nur das Brodeln des Kessels zu hören, in dem die Suppe kochte. Ein aromatischer Duft begann, sich in dem engen, stickigen Raum auszubreiten, und ich schöpfte etwas Hoffnung, da das Gift offenbar geruchlos war.
    Viel zu schnell war meine Frisur fertig, und die Zwergenfrau zerrte mich am Arm von dem Holzschemel hoch. »Das Kleid«, blaffte sie kurz angebunden und machte eine auffordernde Kopfbewegung zu dem hauchdünnen Nichts, das über einem der Stühle auf mich wartete.
    Ein heftiger Widerwillen ergriff mich. Als kleines Mädchen hätte ich etwas darum gegeben, ein so schönes Prinzessinnenkleid tragen zu dürfen. Jetzt jedoch schien es mir ein böses Omen zu sein. Sobald ich es über den Kopf streifen würde, wäre mein Schicksal besiegelt.
    Verzweifelt suchte ich nach einer Möglichkeit, noch etwas Zeit zu gewinnen, um wenigstens einen prüfenden Blick in den Suppentopf werfen zu können.
    »Ich ziehe mich nicht aus, ehe nicht du und dieser Junge aus der Küche verschwunden seid!«, trotzte ich in einer spontanen Eingebung und hielt die Arme schamhaft vor dem Körper gekreuzt.
    »Du kleines Biest! Wirst du wohl …«, fing die Zwergin an zu keifen, doch ich stoppte sie mit erhobener Hand.
    »Ich schreie«, drohte ich, »bis der König erscheint!«
    Mit einem wutentbrannten Schnauben drehte sich das abstoßende Wesen auf dem Absatz um und rauschte hinaus, nicht ohne Jonathan noch ein barsches »Worauf wartet Er noch? Hinaus mit Ihm!«, zuzuwerfen. Der folgte ihr gehorsam, drehte sich kurz vor der Tür aber noch einmal zu mir um und zwinkerte mir rasch und verstohlen zu. Sobald ich allein war, rannte ich zu dem Kessel, der über dem Feuer hing, und spähte hinein. Viel war in dem brodelnden Topf nicht zu erkennen, aber immerhin hatte Jonathan sämtliche Zutaten hineingeworfen, und der satte Duft der Gemüsesuppe stieg mir in die Nase. Die gehackten Blätter der Giftpflanze fielen zwischen all dem kleingeschnittenen Grünzeug gar nicht auf, und ich konnte mir beruhigt mein Hemd ausziehen, das mir die Zwerginnen sowieso schon ruiniert hatten, und in das Kleid schlüpfen.
    Es besaß ein enges Mieder, fiel jedoch ab der Taille weich bis zum Boden und endete am Rückenteil in einer langen Schleppe. In Anbetracht meiner

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