Die gestohlene Zeit
wir es hoffentlich, auch einen Haufen unbesiegbarer Zwerge schachmatt zu setzen!«
Behutsam nahm ich Jonathan den Stoffstreifen aus der Hand, den er gegen sein Kinn gehalten hatte. Zwar hatte die Zwergenfrau die Pflanzen auch berührt, ohne Schaden zu nehmen, weswegen ich annahm, dass nur der Verzehr des Fingerhutes tödlich war, aber ich wollte sichergehen. Daher wickelte ich mir den Stoff um die Finger, und derart geschützt begann ich, die Blätter von ihren Stielen zu pflücken. Sie glichen denen der Brennnessel, aber ich wusste von Caro, dass ihre Wirkung weit weniger harmlos war. Wenn die Opfer Glück hatten, wachten sie im Krankenhaus wieder auf.
Welche Wirkung die Giftpflanze auf die Zwerge hatte, wusste ich nicht, aber es war mir auch egal. Ich verbuchte meine Aktion als Notwehr.
Um nicht länger nachdenken zu müssen, ob ich demnächst vielleicht ein paar Zwergenleben auf dem Gewissen hatte, schichtete ich das Grünzeug sorgfältig auf ein Holzbrett. In einträchtigem Schweigen hackten Jonathan und ich die Blätter klein, immer darauf bedacht, sie nicht zu berühren.
»Wir geben sie zu der Suppe, die ich gleich zubereite. Ich werde versuchen, viele Kräuter beizumengen, damit die Zwerge hoffentlich nichts von dem giftigen Zeug schmecken. Wir müssen nur dafür sorgen, dass die Suppe möglichst noch vor der Hochzeitszeremonie auf den Tisch kommt«, erklärte ich. Jonathan nickte. Trotzdem war mir nicht besonders wohl bei der Sache. Was, wenn der Rote Fingerhut den Zwergen nicht das Geringste anhaben konnte? Rasch schob ich diesen Gedanken beiseite und holte das Gemüse aus dem muffigen Vorratsloch. Energisch begann ich, die Möhren zu schaben, um nicht darüber nachzudenken, was mit mir passierte, wenn die Zwerge völlig immun gegen das Gift wären. Ich musste wenigstens versuchen, Laurin zu entkommen, koste es, was es wolle.
Ich blickte zu Jonathan, der gerade etwas mehr Wasser in den Kessel goss, in dem bereits ein paar Markknochen brodelten. »Du musst nicht mitmachen, Jonathan«, sagte ich ernst. »Ich meine, du könntest den Zwergen ja vorspielen, du wärst krank. Oder du tust später so, als hättest du auch was von der Suppe gegessen und …«
»Emma«, unterbrach er mich sanft. Ich stockte und sah hoch. Er hatte sich zu mir umgedreht und sah mich mit seinen Kornblumenaugen an. »Ich werde dich nicht im Stich lassen. Und ich werde mich sicher nicht feige irgendwo verstecken, während du dein Leben für deine Freiheit riskierst. Entweder wir kommen beide hier heraus, oder …« Er verstummte, aber ich spürte die Erleichterung, die mich warm durchflutete. »Okay«, sagte ich leise, »ich …«
Unvermittelt flog die Tür auf und schlug mit einem Knall gegen die Felswand. Vor Schreck ließ ich die Mohrrübe fallen, die ich gerade für die Suppe geschnitten hatte. Die Stücke verteilten sich auf dem steinernen Küchenboden. Eine der Zwergenfrauen war hereingekommen und funkelte mich bitterböse an. In ihren Händen hielt sie das Kleid – es war makellos.
Am liebsten hätte ich laut geflucht. Die Suppe war noch längst nicht fertig, im Gegensatz zu der Näharbeit der Zwerginnen. Der Schaden, den ich an dem Kleid angerichtet hatte, war nicht ausreichend gewesen. Doch zu spät: Der Näherin auf dem Fuße folgte Laurin. Seine altmodischen Schnallenschuhe waren vorne spitz und den grotesken Trippelschritten des Königs zufolge wohl auch ein paar Nummern zu klein. Prächtig gekleidet in eine dunkelblaue Samtkniebundhose, durchwirkt mit Goldfäden und einer dazu passenden Jacke samt Wams, sah er trotzdem immer noch aus wie ein verkleidetes Warzenschwein.
Grauen und Ekel überfielen mich und schnürten mir die Luft ab, als hinge ich am Galgenstrick – und so war mir auch zumute. Mein ausgetüfteltes Vorhaben drohte zusammenzufallen wie ein Spielkartenhaus im Windzug. Hilfesuchend blickte ich zu Jonathan hinüber, doch der sah genauso überrumpelt drein.
»Es ist alles bereit für unsere Vermählung, mein Liebchen. Und ich sehe wohl, du bist zur Vernunft gekommen und lässt auch das Weinen und Klagen, mit dem du das letzte Mal mein Herz beschwertest«, schmeichelte Laurin.
Die Vorstellung, bald mit diesem Ungeheuer verheiratet zu werden, ließ mich in die Knie gehen. »Similde, was ist mit dir?«, hörte ich Laurins Stimme durch die Schwärze, die mich in eine erneute Ohnmacht zu reißen drohte.
»Sie ist vor Hunger geschwächt, Eure Hoheit«, vernahm ich auf einmal Jonathans Stimme. Ich kniff
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