Die Gilde von Shandar: Die Spionin
aufrechte Haltung und die hellen, intelligenten Augen. Die eigenen Augen zusammengekniffen, fragte er sich, ob die blonden schulterlangen Haare echt waren oder eine sehr überzeugende Perücke. Wahrscheinlich Letzteres, vermutete er.
Das Mädchen war für eine Spionin ausgezeichnet geeignet. Sie war klug, geschickt und eine tödliche Kämpferin. Sie war weder groß noch klein. Ihre Nase war gerade und unauffällig, die Wangenknochen traten nicht hervor wie bei einer klassischen Schönheit, doch die Symmetrie ihres Gesichtes strahlte eine gewisse Schönheit aus. Durch diese Ebenmäßigkeit wurde es unglaublich anpassungsfähig. Ein sehr nützliches Werkzeug, dachte er.
»Nachdem er sich so abrupt von unserem kleinen Treffen gestern Nachmittag verabschiedet hat, wurde er angeblich gesehen, wie er aus dem Palast stolziert ist«, sagte der General schließlich. »Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen. Es scheint, als hätte er am frühen Nachmittag Kommandeur Vammus seinen Besuch abgestattet, um ihm seinen Respekt zu bezeugen.«
Femke zuckte leicht zusammen. »Ich gehe davon aus, dass der Kommandeur Euch nicht persönlich von dem Besuch unterrichtet hat«, bemerkte sie.
»Vammus hatte einen bösen Unfall. Zeugen hörten ihn die Treppe hinunterfallen, aber niemand hat gehört, wie er geschrien hat. Als er unten aufschlug, war sein Genick gebrochen. Ich vermute stark, dass er bereits tot war, bevor sein Körper die Treppe hinunterstürzte.«
»Da habt Ihr sicher recht, Euer Majestät. In bestimmten Kreisen ist Shalidar für seine Fähigkeiten sehr bekannt. Er lässt nicht gerne Spuren zurück. Wenn Vammus irgendetwas über seine Aktivitäten im Palast wusste, dann hat Shalidar ihn sicher zum Schweigen gebracht. Es sieht mir nach einem klaren Mordfall aus.«
Einen Moment lang musste Femke an ihren Lehrmeister denken. Lord Ferrand hatte Shalidar gehasst. Der Attentäter war einmal ein Kollege und enger Freund von ihm gewesen, doch er hatte seine Spionageausbildung verraten. Er hatte seinen ehrenwerten Status als vertrauenswürdiger Spion gegen das Gold eingetauscht, das böse Menschen bereit waren, für einen professionellen Auftragskiller zu bezahlen. Damit hatte er sich Ferrands ewige Feindschaft zugezogen. Auch Femke fühlte sich ähnlich betrogen. Beim bloßen Gedanken daran, Geld fürs Töten zu nehmen, drehte sich ihr der Magen um.
»Ich dachte, das solltest du wissen, weil es gut möglich ist, dass Shalidar auch dich als ein zu lösendes Problem betrachtet«, fügte der General hinzu und beobachtete scharf ihre Reaktion. »Der Mörder war anscheinend in Vallaines Betrug eingeweiht gewesen, auch wenn es merkwürdig erscheint, dass er mit Kommandeur Vammus zusammengearbeitet hat. Er hat die Geschehnisse hier im Palast sicherlich zu seinen eigenen Zwecken manipuliert. Du hast seine Pläne vereitelt, daher solltest du sehr vorsichtig sein. Ich lasse meine Männer überall nach ihm suchen, aber angesichts der Leichtigkeit, mit der er in meine Residenz im Militärbezirk eingedrungen ist, und seiner guten Kenntnisse vom Palast musst du wachsam bleiben.«
Femke war kurz geschockt. Dass sie selbst das Ziel des Attentäters werden könnte, war ihr noch nicht in den Sinn gekommen. In den letzten Jahren waren sie einander ein paarmal begegnet. Shalidar schien seine Finger überall im Spiel zu haben. Femke hatte den starken Verdacht, dass er vor einem Jahr einen ihrer wenigen wahren Freunde im Palast ermordet hatte. Außerdem hatte er ein paar Hinweise fallen lassen, dass er etwas über das mysteriöse Verschwinden ihres Mentors im Jahr zuvor wusste. Femke hatte ihr Missfallen in der letzten Zeit dadurch kundgetan, dass sie ihn reizte, wo immer sie konnte. Das brachte ihr zwar nur wenig Genugtuung, aber wenigstens hatte es ihr kurzzeitig Freude bereitet.
Es war gefährlich, einen Attentäter zu reizen, doch das Credo der Attentäter selber bot einen gewissen Schutz. Alle Mitglieder der Gilde schworen einen heiligen Eid, niemals zum Vergnügen zu töten. Töten war Geschäft. Jetzt lag die Situation allerdings anders. Femke hatte die schmale Linie vom bloßen Ärgernis zur direkten Einmischung in Shalidars Geschäfte überschritten. Er würde nicht vergessen, wie nahe ihr Messer ihm gekommen war, und es war mehr als unwahrscheinlich, dass er ihr verzeihen würde, seine Aussichten auf eine erfolgreiche Zukunft im Palast durchkreuzt zu haben. Hätte Vammus den Mantel des Imperators erlangt, hätte Shalidar eine ungeheure
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