Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
letztendliche Verwandlung von einem Soldaten zu einem Adligenpriester.
Die Fenster der Kathedrale, von kleinen, runden Scheiben mit den Bildnissen Dutzender der Tausend Götter überragt, waren besonders beeindruckend, weil sie den letzten Abschnitt des Pilgerweges bildeten. Fünf Fenster spiegelten die wesentlichen Stationen der Pilgerreise des Jair wider. Wuchtige Altäre schmiegten sich unter jedes der Pilgerfenster, und Reihen von Kerzen flackerten in der dämmerigen Kathedrale. Rani fühlte sich so sicher zum Altar der Gildemitglieder hingezogen, als würde sie von einem Seil geführt.
Sie sah sich um, ob sie keine übermäßige Aufmerksamkeit von der überwiegend adligen Menge auf sich zog. Dann griff Rani in den kleinen Beutel an ihrem Gürtel und nahm widerwillig eine Kupfermünze hervor, die sie eigentlich für Bonbons aufbewahrt hatte. Sie konnte wohl kaum an einem so bedeutenden Ereignis wie Prinz Tuvashanorans Initiation teilnehmen, ohne auch eine Kerze anzuzünden, Bonbons hin oder her. Ihre Familie würde die Schande nicht ertragen – als hätten sie ihre Händlertochter nie gelehrt, wie man in der Kathedrale angemessen huldigte. Sie zögerte nur einen Augenblick, bevor sie ihre Münze in das entsprechende Gefäß legte und als Ausgleich für ihr Opfer die längste Kerze aus dem nahe stehenden Korb aussuchte.
Rani zündete die Wachskerze an und murmelte das Gebet der Gildemitglieder, Worte, die ihr in den kurzen Monaten, seit sie ihre Lehre begonnen hatte, bereits vertraut geworden waren. Jeden Morgen nach dem Aufwachen murmelte sie das Gebet unter den wachsamen Augen Cooks. Sie sprach es vor jeder Mahlzeit, vor jeder künstlerischen Unternehmung, vor jedem Einbau einer fertig gestellten Glasarbeit, als Strafe vor dem Zuchtmeister und – schließlich – am Ende jeden Tages auf den Knien neben ihrem Strohlager. »Mögen all die Götter wohlwollend auf mein Handwerk herniederblicken, und mögen sie Gefallen an der bescheidenen Kunst finden, die meine Hände erschaffen. Möge Jair selbst sich an meiner bescheidenen Spende erfreuen, und mögen auch meine geringsten Arbeiten der Welt zur Ehre gereichen. Mögen meine Arbeiten mich dem Willen der Götter gemäß zum angemessenen Zeitpunkt in die Himmlischen Gefilde führen. Lobpreiset die Tausend Götter.«
Trotz ihrer besten Absichten stieß Rani die letzten Worte rasch hervor, da sie ihre Aufmerksamkeit nicht von der Menge wenden konnte. Da der Herold mit den Adleraugen an der Tür Wache stand, war es kaum überraschend, dass die meisten Menschen Adlige waren. Natürlich war auch jede der Hauptgilden vertreten – die Dachdecker, die Sticker, die Maler, die Waffenschmiede und andere, die Rani von ihrem gegenwärtigen Platz nicht sehen konnte. Jeder Gildemeister und jede Gildemeisterin trug ein schweres Amtsgewand, von einem mit dem jeweiligen Gildesymbol geschmückten Umhang bedeckt. Rani sah Salina, die Gildemeisterin der Glasmaler, nicht sofort, aber sie überlegte, wie sie so weit wie möglich von den übrigen Handwerkern fernbleiben könnte, da sie eine Konfrontation unbedingt vermeiden wollte. Nirgends in der Kathedrale erblickte sie einen weiteren Lehrling.
Ranis Ausweichkurs führte sie durch das rechte Seitenschiff, wo sie unter den meisterhaften Pilgerfenstern entlanglief. Tatsächlich schuf sich Rani durch einen scharfen Ellenbogenstoß in die Seite eines adligen Mädchens (das zu jung war, um sich bei ihrer unaufmerksamen Mutter zu beklagen) am Rande des südlichen Querschiffs einen geeigneten Platz. Wenn sie sich fast den Hals verrenkte, konnte sie gerade so das gewaltige Fenster ausmachen, an dem sich Ausbilderin Morada abmühte. Aus dem Kathedraleninneren wirkte die Glasarbeit vollendet, alle Bleiruten waren am richtigen Platz. Diese Vollendung konnte jedoch eine durch das Licht bewirkte Täuschung sein, da die Sonne hell strahlte – so hell, dass das Gerüst unmittelbar vor dem Fenster hindurchschimmerte. Rani bemerkte, dass die Strahlen durch das Fenster genau so gebündelt wurden, wie die Gilde es beabsichtigt hatte.
Am Fuß des Altars im Querschiff war ein Teich strahlend blauen Lichts zu sehen. Blau, weil das die Farbe des Königserben war, die Farbe reiner Absichten und edler Ziele, die Farbe des Verteidigers des Glaubens. Das helle Licht wurde durch das in Glas gearbeitete Gewand des Verteidigers in Moradas Meisterstück gebündelt, ungemildert von anderen Schattierungen, selbst von den ausschweifenden Farben, die durch
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