Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
verhindern, Morada mit offenem Munde anzustarren. Zorn war eine Sache – Rani brachte die Ausbilder ständig zum Zähneknirschen, weil sie den unterwürfigen Tonfall ihrer Mitlehrlinge nicht beherrschte. Aber gezwungen zu sein, ein Gerüst ohne Seil hinabzuklettern, wenn eines verfügbar war… Rani hätte auf ihre Kletterkünste vertrauen können, aber es bedeutete ein törichtes Risiko, ohne Halteseil hinabzuklettern. »Oder vielleicht bevorzugst du einen schnelleren Weg hinab?« Moradas Augen blitzten zornig, und Rani bezweifelte nicht, dass die Frau ihre Drohung wahr machen würde – Rani bestenfalls einen Stoß versetzen würde, damit sie die Holzleiter hinabgelangte.
»Nein, Ausbilderin.« Rani eilte zum Rande der Plattform und sog ihre Unterlippe ein, während sie die Füße auf die plötzlich zu glatten Holzsprossen stemmte. Sie wandte sich lautlos an Roan, und ihre Füße führten sie, trotz eines Ausrutschers mitten auf dem Gerüst, sicher auf die Erde zurück.
Erst als sie am Fuß des Gerüsts angekommen war, gab sie dem Hass nach, der unter ihrem Herzen schwelte, und spie auf den Boden, um einen hässlichen Geschmack von der Zunge zu verbannen. Händler-Ratte! Ranis Eltern hatten gutes Geld dafür bezahlt, sie in die Gilde zu bringen – besseres Geld als das, welches Morada für das Fenster des Verteidigers verdienen würde, wie meisterhaft auch immer die Ausbilderin ihr Handwerk beherrschte.
Selbst jetzt noch zwang die Zahlung an die Gilde Ranis Familie, in Armut zu leben. Ihrem älteren Bruder, Bardo, der gehofft hatte, in diesem Jahr seine Pilgerfahrt durchzuführen, war keine andere Wahl geblieben, als diese Reise zu verschieben. Er konnte natürlich den Weg der Götter hier in der Stadt beschreiten, aber das war nicht dasselbe. Jeden Abend, wenn Rani in ihrem winzigen Zimmer einschlief, quälte sie sich mit dem Wissen, dass sie – und nur sie allein – für das Versagen ihrer Familie verantwortlich war. Denn ihre Familie konnte die Pilgerfahrt nicht durchführen, um unmittelbar nach ihrem Tod, der erst in ferner Zukunft liegen möge, Zugang zu den Himmlischen Gefilden gewährt zu bekommen.
Solcherlei Überlegungen brachten sie stets den Tränen nahe. Sie hatte immerhin nicht um das Privileg gebeten, der Gilde beizutreten. Sie hatte gewiss Fertigkeiten in dieser Richtung gezeigt – schon als Kleinkind hatte sie gerne die Schmuckstücke am Stand ihres Vaters auf dem Marktplatz angeordnet. Anders als Bardo und ihre anderen Brüder und Schwestern, interessierte sie das bloße Schimmern des Sonnenlichts auf Silber nicht. Anders als ihre Mutter, kümmerte es sie nicht, ob die Waren von höchster Qualität aus dem geheimnisvollen Zarithia eingeführt waren. Anders als ihr Vater, kümmerte es sie auch nicht im Geringsten, ob die Kasse am Ende des Tages gefüllt war.
Es interessierte sie eher, wie die Waren auf dem Tisch ausgelegt sein sollten. Sie wusste, wie sie sie am besten präsentieren konnte. Ihre Eltern erkannten rasch, dass mehr Schmuckstücke verkauft wurden, wenn sie den Tisch dekorierte. Nach einer kurzen Ausbildung – eine Lehre, dachte Rani mit verzerrter Miene – war ihr diese Aufgabe dauerhaft zugewiesen worden. Ihre Fertigkeit brachte ihrer Händlerfamilie größeren Gewinn ein, und ihr Können erlaubte es ihren Leuten, sie in die Gilde einzukaufen.
Nun, wo sie im Gildehaus lebte, war ihre Familie hilflos darauf beschränkt, ihre Waren selbst auszulegen und damit vorbeigehende Kunden anzulocken. Als Ausbilderin Morada Rani daher dafür schalt, sich ihren Weg in die Gilde erkauft zu haben, erkannte die Frau nicht, wie sehr sie ihre Worte wirklich trafen. Rani hatte ihre Familie den Seelenfrieden, die Ersparnisse und – am wichtigsten – die Zukunft gekostet, da ihr Stand ohne Ranis Gabe nicht den gleichen Gewinn hervorbrachte.
Während sich Rani ihren Weg zur Vorderseite der Kathedrale bahnte, war sie vollkommen davon überzeugt, dass ihr Leiden in den wenig mitfühlenden Händen der Gilde ungerechtfertigt war. Sie, der arme Glasmalerlehrling… Sie hatte nichts getan, was Zorn von ihren Ausbildern verdient hätte. Sie hatte nichts getan, um sich die Schläge einzuhandeln, die sie gewiss durch die Hände des Zuchtmeisters erleiden würde – Schläge, die umso mehr schmerzen würden, da sie zu den Quetschungen hinzukämen, die ihren Rücken noch von den Heldentaten der letzten Woche verunzierten.
Nein, sie konnte nichts gewinnen, wenn sie zum Gildehaus zurückeilte. Und Rani
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