Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
als Prinz Tuvashanoran nur noch in einer einfachen, weißen Untertunika vor dem Altar kniete, nahmen sie ihm auch noch das letzte Symbol seines weltlichen Statu. Der älteste der Altardiener trat an die Seite seines Cousins, um die rituelle Demütigung des Prinzen zu vollenden. Rani konnte selbst von der anderen Seite des Querschiffes aus das Zögern in den Augen des Jungen und das schwere Schlucken erkennen, als er die dünnen, zarten Hände zur Stirn seines Cousins hob. Rani musste fast lachen, als der Junge ängstlich um Bestätigung heischend zum Hohepriester schaute.
Der alte Mann nickte nur kurz, aber erst als auch dem Prinzen ein kurzes Nicken gelang, fand der Junge tatsächlich den Mut, das goldene Stirnband anzuheben, das Symbol der weltlichen Verbindung an sich zu nehmen. Schmale Reihen Schmelzglas fingen das kobaltblaue Sonnenlicht ein und ließen helle Blitze in die Menge zucken.
Als der Altardiener mit der weltlichen Bürde forttrat, verspürte Rani den Drang, ihren Stolz auf die Ehre ihres Prinzen herauszuschreien. Der Hohepriester hob die Arme, als berufe er die Mächte des Himmels herab. »Willkommen im Hause der Tausend Götter, mein Sohn. Willkommen am heiligsten Schauplatz des Pilgers. Wenn du deine Füße auf den Weg des Verteidigers setzt, musst du den Göttern deinen Wunsch vermitteln, ihnen zu dienen, deinen Wunsch, in den Schlachten der Welt ihr Schwertarm zu sein.« Der Hohepriester deutete auf ein blank gezogenes Schwert, das auf dem Altar lag, schmuckloser Stahl, der vor tödlicher Macht glänzte.
»Bevor du diese neue Waffe für deine Schlacht aufnimmst, trinke aus diesem Becher den Abschiedstrunk für die Reise, die du nun unternimmst, um deinem Volk, dem Königreich Morenia und der Gemeinschaft der Gläubigen zu dienen.« Ein Altardiener trat vor und reichte dem alten Mann einen vergoldeten Kelch. Der Kelch war schwer, und es waren zwei zitternde Fäuste erforderlich, um ihn vor dem ehrfürchtigen Volk zu erheben. Mit einer Verbeugung reichte der Priester Tuvashanoran den Kelch. Als der Prinz den Kelch anhob, fand er die genaue Bündelung des Lichts vom Fenster des Verteidigers, so dass der Gemeinde jede Facette jedes eingelassenen Edelsteins entgegenstrahlte. Dann nahm Tuvashanoran einen großen Schluck und trank den heiligen Wein. Erst als der wuchtige Kelch geleert war, reichte er dem Priester den Schatz zurück.
Der alte Mann nickte stolz. »Nun, mein Sohn, beuge dich vor dem Pilgertisch im Haus der Götter und offenbare jegliche Gedanken, welche die Erfüllung deiner Mission in der Welt beschmutzen würden.«
Rani hörte das kollektive Seufzen der Gemeinde, als Tuvashanoran die Anordnungen des Priesters befolgte. Der Prinz bewegte sich katzengleich und vollkommen gelassen. Er war sich der Tatsache bewusst, dass aller Augen im hohen Hauptschiff auf ihm ruhten. Tuvashanoran berührte mit der Stirn den Fuß des Altars, wobei er unbewusst die Ränder seiner Untertunika zurückschlug, so dass sich das schneeweiße Leinen zu Engelsflügeln bauschte. Dann, bevor das Bild verloren gehen und der Prinz ein gewöhnlicher Mann werden konnte, der vor einem gewöhnlichen Marmorblock kniete, beugte sich Tuvashanoran dem Altar der Götter.
Vor Stolz bildete sich ein Kloß in Ranis Kehle, während sie zusah. Sie war vielleicht nur ein Lehrling. Sie war vielleicht nur das jüngste Kind einer Händlerfamilie, einer Familie, die geknausert und gespart hatte, um sie in die Gilde einzukaufen. Aber sie war auch ein Teil der Macht, die das Porträt vor ihr gemalt hatte, die das königliche Bild eines Prinzen geschaffen hatte, der seine weltliche Krone ablegte, um seine spirituelle Krone aufzunehmen. Rani konnte nicht umhin, einen Blick auf ihren kleinen Beitrag zu diesem Festspiel zu werfen, zu dem Fenster, das Ausbilderin Morada nur knapp rechtzeitig für die Initiation fertig gestellt hatte.
Als Rani zu dem Fenster hinaufblickte, erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. Noch vor einem Jahr hätte sie an dem sorgfältig ausgeführten Muster nichts Außergewöhnliches bemerkt. Noch vor einem Monat hätte sie den Umriss eines an dem Glas lehnenden Bogens nicht bemerkt. Noch vor einer Woche hätte sie nicht erkannt, dass der Bogen nicht zu der komplizierten Verstärkung gehörte. Aber sie hatte erst gestern den Tisch mit den Zeichnungen für dieses Fenster gekalkt. Stundenlang hatte sie geschrubbt und Ausbilderin Moradas Zeichenkohlestriche entfernt. Sie hatte sich das genaue Muster von Blei und Glas
Weitere Kostenlose Bücher