Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
mit den Flügeln auf sie ein. Der Vogel krächzte erneut und schlug vor Aufregung über Ranis glitzerndes Gildeabzeichen weiterhin mit den großen Flügeln. Als Rani Stoff reißen hörte, konnte sie sich vorstellen, wie auch ihre Haut aufreißen würde, aber dann strich die Krähe auf breiten Flügeln davon und zog die goldenen Fäden hinter sich her, die Ranis mehrfarbiges Gildeabzeichen festgehalten hatten.
Ohne die Bedrohung durch die Krähe gelang Rani der restliche Aufstieg im Handumdrehen. Sie zog sich mit zitternden Armen auf die Mauer und fand bald auch den Mut, zum Apfelbaum hinüberzuspringen.
Nachdem sie die knorrigen Äste des Baumes sicher erreicht hatte, begann sie unkontrolliert zu zittern. Plötzlich fror sie – ihre Arme lagen an den Stellen bloß, wo die Krähe den Stoff zerrissen hatte, und sie vermisste den Umhang, den sie an der Kathedrale hatte zurücklassen müssen. Rani erkannte, dass ihre Hände noch immer zitterten, als sie nach einem rosigen Apfel griff.
Nur einen Augenblick verschmolz die Frucht mit dem Blut auf Tuvashanorans edlem Gesicht, aber sie tat das Bild erschaudernd ab, presste die Augen zusammen und führte die duftende Frucht an ihre Lippen. Sie kaute mechanisch und ergriff dann einen weiteren Apfel und noch einen.
Erst als das schlimmste Hungergefühl in ihrem Bauch bezwungen war, stieg sie von ihrem hohen Sitz herab. Sie hielt am Fuß des Baumes inne, um mehrere herabgefallene Äpfel aufzusammeln und sie in die verborgenen Taschen ihres Wamses zu stecken. Der Obstgarten wirkte an diesem späten Herbstnachmittag unheimlich. Herbstkahle Zweige bewegten sich vor einem sich verdunkelnden Himmel. Die Brise pfiff durch die Bäume und ließ trockenes Laub wie Gebete für die Toten rascheln.
Rani gelangte unbemerkt ins Gildehaus und lief durch seltsam stille Gänge. Der späte Nachmittag war normalerweise die Zeit der größten Aktivität – Ausbilder, die ihren Unterricht für den Tag beendeten, Lehrlinge, die eilig ihre Aufgaben erledigten, bevor sie sich für ihre Brüder und Schwestern abrackerten.
Heute durchstreifte jedoch niemand die Gänge. Rani kam am großen Saal vorbei, in dem die gekalkten Tische standen und darauf warteten, dass die Hand eines Glasmalers komplexe Kohlemuster skizzierte. Kein Glasmaler war zu sehen. Gewiss, die letzten Reste eines Feuers zuckten im Kamin, aber selbst das war fast zu Kohle verglüht.
Danach konnte Rani nicht mehr sicher sagen, was sie zur Züchtigungshalle getrieben hatte. Vielleicht waren es die zornigen Worte von Ausbilderin Morada, als sie Rani befahl, sich zur Bestrafung zu melden. Vielleicht hörte sie unbewusst die Geister von Stimmen im noch immer totenstillen Gildehaus und beschloss, sie zu suchen. Vielleicht wurden ihre Schritte von einem der Tausend Götter gelenkt.
Jedenfalls betrat Rani den schwach beleuchteten Lehrlingsgang, einen engen Durchgang, der hinter der Züchtigungshalle verlief. Sie hatte mehr Zeit in diesem dunklen Raum verbracht, als sie zugeben mochte. Die fensterlosen Steinmauern ragten bis zum abgerundeten Gewölbe hoch über ihr auf. Tatsächlich kam das einzige Licht in dem bedrückenden Gang von den Kerzen, die auf Altären entlang des Ganges brannten. Jeder Altar war einem anderen Gott geweiht – Lene, dem Gott der Demut, Plad, dem Gott der Geduld, Dain, dem Gott der inneren Einkehr.
Es waren insgesamt ein halbes Dutzend Altäre, jeder mit Gegenständen bestückt, die vereinzelte Lehrlinge dargeboten hatten. Rani hatte die Gaben ihrer Kameraden bei vielen Gelegenheiten betrachtet. Jede Woche wurde dem am häufigsten getadelten Lehrling die Aufgabe zugeteilt, die massiven Talgkerzen auszuwechseln, die auf jedem Altar rauchten. Die Kerzen waren so lang wie Ranis Arm, ihr Umfang entsprach dem ihres Halses, und sie musste sich auf Zehenspitzen aufrichten, um sie anzuzünden.
Nun kämpfte sie gegen das zwanghafte Gefühl an, Ersatz für die herabbrennenden Kerzen auf den überhäuften Altären herbeischleppen zu müssen. Solcherlei Beachtung von Details wäre absurd – Tuvashanoran war tot. Der Prinz war gestorben, weil sie ihn gerufen hatte, sie hatte aufgeschrien. Rani brauchte kein Soldat zu sein, um zu erkennen, dass der tödliche Pfeil ohne ihr Eingreifen harmlos über Tuvashanorans Kopf hinweggesegelt wäre. Wenn sie nur geschwiegen hätte, wäre Tuvashanorans Leben bewahrt worden. Dieses Mal würde kein herabbrennendes Wachs in einem dunklen Gang Rani freisprechen.
Sie konnte vielleicht die
Weitere Kostenlose Bücher