Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
säumte. Dabei stellte sie sich ununterbrochen vor, wie eine gierige Menschenmenge um die Straßenbiegung fegte, um blutige Rache an Morada Glasmalerin zu nehmen.
Die verlassenen Ställe vermittelten Rani ein gewisses Gefühl der Sicherheit, und sie führte eine Hand rasch an ihre Wange und hinterließ so schmutzige Streifen in ihren Tränenspuren. Steinmauern ragten über ihr auf; sie versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken und tastete mit den Fingern über das raue Gestein.
Dies alles war ein Albtraum. Tuvashanoran war der größte Krieger, der jemals gelebt hatte. Er konnte nicht durch einen einzigen Pfeil niedergestreckt worden sein. Er konnte nicht im Haus der Tausend Götter ermordet worden sein. Und Morada konnte den Mord nicht begangen haben. Rani konnte noch immer die Bleiruten auf Moradas Gerüst sehen, und sie konnte den gottlosen Zorn in der Stimme der Ausbilderin hören. Morada hatte mindestens eine Glasscheibe aus dem Fenster des Verteidigers entfernt, und sie hatte ihre Tat mit rasch aufgetragenem Blei vertuschen wollen. Morada war zornig gewesen, als Rani sie entdeckte. Wenn die Ausbilderin Tuvashanoran nicht selbst ermordet hatte, war sie jedoch mit Gewissheit unmittelbar an dem Attentat beteiligt gewesen.
Als Rani nun in der Gasse stand, wurde sie von dem rauen Schrei einer Krähe erschreckt. Sie griff aus einem Reflex heraus nach einem großen Stein zwischen den gebrochenen Pflastersteinen. Jahre der Arbeit vor einem Tisch mit glänzenden, hübschen Dingen hatten ihr ein ausgezeichnetes Zielvermögen beschert – sie konnte auch die größten Krähen vertreiben, die ihre hart arbeitende Familie bestehlen wollten.
Der Vogel kauerte auf einem niedrigen Ast eines wuchernden Apfelbaumes – möglicherweise war es sogar der Baum, von dem die Äpfel stammten, die Rani Morada heute Morgen gebracht hatte. Als das Mädchen an das Obst dachte, zog sich ihr Magen vor Hunger zusammen. Sie schämte sich einen Moment – wie konnte sie auch nur an Essen denken, wenn der größte Held ihres Volkes tot in der Kathedrale lag, von einem Pfeil niedergestreckt, weil sie ihn durch ihren Schrei aus seiner Versenkung vor dem Altar aufgeschreckt hatte? Vielleicht hätte der Bogenschützen-Mörder den Prinzen ohne Ranis unbeabsichtigte Beihilfe verfehlt. Vielleicht hätte Tuvashanoran überlebt. Rani hatte vielleicht nicht den Bogen abgeschossen, aber sie hatte Prinz Tuvashanoran gewiss seinem bitteren, unzeitigen Tod zugeführt.
Rani verdrängte ihr Schuldgefühl und wandte sich dem unmittelbaren Problem zu, Zugang zu den Gärten des Gildehauses zu erlangen. Der Apfelbaum ragte mindestens fünf’ zehn Fuß über ihr auf, die Mauer selbst war so hoch wie zwei Männer. Rani sah sich in der Gasse um und entdeckte vier zerbrochene Fässer. An jedem der Fässer waren einige Dauben eingedrückt. Die Böttcher hatten sie für nicht reparabel erachtet. Dennoch rollte Rani die Fässer kurzerhand zur Mauer und balancierte sie zu einem wackeligen Turm aus.
Sie war noch immer weit vom oberen Rand der Mauer entfernt, als sich ihr Magen erneut vor Hunger zusammenzog und Galle an ihrem Gaumen brannte. Es nützte nichts. Sie wischte sich die Hände an ihrem schmutzigen Wams ab, biss die Kiefer zusammen und suchte zwischen den Mauersteinen Halt.
Sie arbeitete zwar erst wenige Monate im Gildehaus, aber in dieser Zeit hatte sie unzählige Töpfe Farbe anrühren müssen. Sie hatte endlose Flächen gekalkter Tische geschrubbt. Sie hatte Maismehl in zahllose Kessel rieseln lassen und den entstandenen Brei umgerührt, bis er Cooks merkwürdigen Erwartungen entsprach. Ihre Arme bebten unter ihrer neuen Kraft, und sie fand Halt, wo scheinbar keiner war, winzige Lücken, in die sie ihre Finger zwängen konnte. So kletterte sie behände die Steinmauer hinauf.
Sie geriet nur ein Mal ins Stocken, als die Krähe erkannte, dass jemand in ihr Gebiet eindrang. Der große Vogel krächzte schrill und stürzte sich auf sie. Sein Schnabel traf den glänzenden Goldfaden von Ranis Gildeabzeichen. Der diebische Vogel hatte es auf den Reichtum des Lehrlings abgesehen, ebenso wie seine Brüder versucht hatten, die Händler zu bestehlen. Rani wehrte den Angriff der Krähe mit einer steiffingrigen Hand ab. Dieses instinktive Manöver bewirkte, dass sie ein Stück der Mauer wieder hinabglitt. Sie konnte sich nur abfangen, indem sie den Bauch flach an den Stein drückte und sich beide Knie abschürfte.
Die Krähe, die sich nicht abschrecken ließ, schlug
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