Die Glasfresser
so muss es gehen.
Die Schnur geht auf die Nr. 130 in der Via Sciuti zu. Ich drehe mich um und folge ihr ins Haus. Der von der tief stehenden Sonne überflutete Asphalt ist aus Metall, bei jedem Schritt meine ich einzusinken.
Später trete ich auf den Balkon und halte noch einmal nach der Krüppelkatze im Garten Ausschau. Von hier aus ist sie ein dunkler Stein; die anderen Katzen halten sich von ihr fern, machen einen Bogen, um ihr nicht zu nah zu kommen.
Die Sonne ist jetzt eine trockene Lunge, teilt sich den Himmel mit dem Mond und der Dämmerung, die dünn herabsinkt, die Risse auf der Fahrbahn erfasst, die Flecke des Öls, das aus Motoren tropft, das Gekritzel der Bremsspuren, die am Stamm von Besenstielen gestützten Bäumchen.
Gestern ist hier unten ein kleiner Junge auf ein Auto zugegangen, das gerade geparkt hatte. In Dialekt hat er von dem Fahrer Geld gefordert; der hat ihm gesagt, dass er verschwinden soll, er würde ihm nichts geben. Der Junge hat auf das Auto gezeigt, hat noch einmal gefragt, ist stehen geblieben und hat gewartet. Als der Mann den Schlüssel ins Schloss gesteckt hat, um die Tür abzuschließen, hat der Junge von einem kleinen Baum in der Nähe einen Ast abgebrochen,
auf die Scheinwerfer und Fenster eingeschlagen, dann den Ast weggeworfen, sich über einen Reifen gebeugt und durch das Profil hindurch mit den Zähnen Löcher in den Schlauch gebissen. Schließlich hat er sich mit ölverschmiertem Gesicht auf den Mann gestürzt und ihn in die Wangen und die Stirn gebissen.
Als ich die Harfenmusik aus dem Wohnzimmer höre, gehe ich wieder hinein, um mir Intervallo anzusehen. Das ist als Pausenfüller gedacht, als Flicken zwischen einer Sendung und der nächsten. Doch für mich ist es Hypnose.
Die gewölbte Brücke von Apecchio, das Visso-Tal mit verstreuten, hellen Häusern hier und da. San Ginesio, Gratteri, Pozza di Fassa. Die Fassaden von Sutri, der weiße Brunnen von Matelica. Für jede Ansichtskarte ein paar Sekunden, dann Überblendung und eine neue Karte. Das ewige ländlich-idyllische Italien, errichtet auf grauem, von Hand behauenem Stein, geschaffen aus Trockenmauern, geschmückt mit Efeu und Moos, bewohnt nur von Oskern und Etruskern, einfach, bäuerlich, die Toten ruhen auf Dorffriedhöfen, Kies zwischen den Gräbern, Knirschen und der Duft von Gladiolen, im Kies die Beeren der Zypressen, der klare Himmel, die Rosen. Trugbilder von Landschaften, Täuschung der nationalen Wahrnehmung. Das Pittoreske, das Lokale, das Prämoderne, das Unverfälschte. Das schöne halb analphabetische Italien, das aus Schicklichkeit die Grammatik ignoriert.
Bis vor einem Jahr gab es auch noch Carosello, das Röntgenbild der Freude. Geblieben ist Intervallo, das langsame Karussell des Vergessens, eine Puppenstube im Fernsehen.
Dann fangen die Abendnachrichten an. Sie berichten aus Rom. Von einem Hinterhalt, gestern, in der Via Acca Larentia. Von Schüssen. Es gab zwei Tote, ein Polizist hat eine Person verletzt. Man sieht eine mit einem weißen Tuch zugedeckte Leiche. Die Opfer sind jung und blass, ihre Gesichtszüge wie Kritzeleien im Licht.
Im Fernsehen ist Rom ein Tier. Von oben gefilmt sehen die Häuser und Straßen aus wie ein Rücken aus Stein. Ein mineralisches Tier. Mit Toten drin. Die es hervorbringt oder vielleicht anzieht. Auf jeden Fall stirbt man nur in Rom. Also nehme ich die Toten
von Rom, ziehe sie einen nach dem anderen heraus - aus der Via Acca Larentia und aus all den anderen Straßen - und bringe sie in das Italien, das es nicht gibt. Ein Toter liegt auf dem Kiesbett unter der Brücke von Apecchio, einer hängt an den Zinnen des Castello di Caccamo, einer treibt leblos im Gewässer von Civitanova Marche, und ein anderer klemmt zwischen den Felsen der Nekropolis von Pantalica. Ich gebe Italien seine Toten zurück.
Die Schnur kommt, sagt mir, dass wir bald zu Abend essen.
»Bin ich je in Rom gewesen?«, frage ich sie.
»Gleich nach der Geburt«, antwortet sie.
»Und dann?«
»Dann nicht mehr. Ich bin auch nie wieder da gewesen.«
»Kann ich dahin?«
»Warum?«
Darauf habe ich keine präzise Antwort, also sage ich nichts.
»Allein nicht«, sagt sie noch.
»Können wir dahin?«, frage ich genauer.
Sie starrt auf den Bildschirm, hebt einen Finger zum Mund, knabbert an der Nagelhaut herum.
»Vielleicht«, sagt sie.
»Wann?«
»Wir können es Ostern versuchen.«
Die Schnur starrt immer noch auf den Bildschirm, sie spricht mit mir, ohne sich zu mir
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