Die Glasglocke (German Edition)
aus dem Weg gehen, wie einer Aussätzigen mit einer Warnglocke. Mir fiel das Gesicht ein, das meine Mutter bei ihrem ersten und letzten Besuch in der Anstalt seit meinem zwanzigsten Geburtstag gemacht hatte, ein blasser, vorwurfsvoller Mond. Die Tochter in einer Anstalt! Das hatte ich ihr angetan. Und dennoch hatte sie offenbar beschlossen, mir zu verzeihen.
»Wir machen da weiter, wo wir aufgehört haben, Esther«, hattesie mit süßlichem Märtyrerinnenlächeln gesagt. »Wir tun so, als wäre das alles ein böser Traum gewesen.«
Ein böser Traum.
Für den, der eingezwängt und wie ein totes Baby in der Glasglocke hockt, ist die Welt selbst der böse Traum.
Ein böser Traum.
Ich erinnerte mich an alles.
Ich erinnerte mich an die Leichen und an Doreen und an die Geschichte von dem Feigenbaum und an Marcos Diamant und an den Matrosen im Bostoner Common und an Doktor Gordons schielende Krankenschwester und an die zerbrochenen Thermometer und an den Neger mit seinen zwei Sorten Bohnen und an die zwanzig Pfund, die ich durch das Insulin zugenommen hatte, und an den Felsen, der sich wie ein grauer Schädel zwischen Himmel und Meer wölbte.
Vielleicht würde das Vergessen wie eine freundliche Art von Schnee sie alle erstarren lassen und zudecken. Aber sie waren ein Teil von mir. Sie waren meine Landschaft.
»Da ist ein Mann für Sie!«
Die lächelnde Schwester mit der schneeweißen Kappe steckte den Kopf zur Tür herein, und einen wirren Augenblick lang glaubte ich wirklich, ich sei wieder im College und dieses fichtenweiße Mobiliar und die weiße Aussicht auf Bäume und Berge seien nur eine verbesserte Auflage der angestoßenen Stühle und des zerkratzten Schreibtischs in meinem alten Zimmer und der Aussicht auf den öden Hof. »Da ist ein Mann für dich!« hatte das Aufsicht führende Mädchen am Telefon des Studentenheims gesagt.
Wodurch unterschieden wir in Belsize uns eigentlich so sehr von den Mädchen, die in dem College, in das ich zurückkehren würde, Bridge spielten und plauderten und studierten? Auch diese Mädchen saßen jedes für sich unter einer Art Glasglocke.
»Herein!« rief ich, und ins Zimmer trat, die Khakikappe in der Hand, Buddy Willard.
»Na, Buddy?« sagte ich.
»Na, Esther?«
Wir standen da und sahen einander an. Ich wartete auf eine Gefühlsregung, wenigstens ein Glimmen. Nichts. Nichts außer einer großen, gutmütigen Langeweile. Buddys Gestalt in der Khakijacke schien mir klein und so ohne Verbindung zu mir wie die braunen Zaunlatten am Fuß der Skipiste, an denen er an jenem Tag vor einem Jahr gelehnt hatte.
»Wie bist du hergekommen?« fragte ich schließlich.
»Mit Mutters Wagen.«
»Bei all dem Schnee?«
»Na ja«, grinste Buddy, »ich bin drüben in einer Schneewehe steckengeblieben. Der Berg war zuviel für mich. Ob ich hier irgendwo eine Schaufel ausleihen kann?«
»Wir können bei einem der Hausmeister eine Schaufel besorgen.«
»Prima.« Buddy wandte sich zum Gehen.
»Warte, ich komme mit und helfe dir.«
Buddy warf mir einen Blick zu, und ich sah in seinen Augen Befremden aufblitzen – die gleiche Mischung aus Neugier und Mißtrauen, die mir bei der Frau von Christian Science und meinem alten Englischlehrer und dem unitarischen Priester begegnet war.
»Ach, Buddy«, lachte ich. »Mir geht's gut.«
»Oh, ich weiß, ich weiß, Esther«, sagte Buddy hastig.
»Du bist es, der sich mit dem Ausbuddeln von Autos in acht nehmen sollte. Nicht ich.«
Und tatsächlich ließ mich Buddy die meiste Arbeit tun.
Der Wagen war auf der spiegelglatten Steigung zur Anstalt ins Rutschen gekommen und mit einem Rad in eine tiefe Schneewehe neben der Straße geraten.
Die Sonne war zwischen grauen Wolkenschleiern hervorgetreten und schien mit sommerlichem Strahlen auf die unberührten Berghänge. Als ich im Arbeiten einmal innehielt und über die makellosen Weiten blickte, empfand ich die gleiche tiefe Erregung, die mich überkommt, wenn ich Bäume und Weiden hüfthoch überschwemmt sehe – es ist, als wäre die gewöhnliche Weltordnung leicht verschoben und in ein neues Stadium getreten.
Ich war dankbar für den Wagen und die Schneewehe. Sie hielten Buddy davon ab, mir die Frage zu stellen, mit der ich rechnete und die er mir beim Nachmittagstee in Belsize schließlich auch stellte. DeeDee spähte wie eine neidische Katze über den Rand ihrer Teetasse zu uns herüber. Nach Joans Tod war DeeDee für einige Zeit nach Wymark umgezogen, aber inzwischen war sie wieder bei
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