Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Glasglocke (German Edition)

Die Glasglocke (German Edition)

Titel: Die Glasglocke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Plath
Vom Netzwerk:
einen Augenblick hereinkommen?«
    Ich nickte.
    Miss Quinn trat ein und drückte die Tür hinter sich leise wieder zu. Sie trug eines ihrer makellosen marineblauen Kostüme und eine einfache schneeweiße Bluse, die man in dem V des Ausschnitts sah.
    »Entschuldigen Sie die Störung, Miss Greenwood, zumal jetzt, mitten in der Nacht, aber ich dachte, Sie könnten uns vielleicht mit Joan weiterhelfen.«
    Einen Moment lang fragte ich mich, ob Miss Quinn mir etwa Joans Rückkehr in die Anstalt zum Vorwurf machen wollte. Mir war noch immer nicht klar, wieviel Joan nach unserem Ausflug zum Notdienst eigentlich durchschaut hatte, aber einige Tage später war sie nach Belsize zurückgekommen, hatte allerdings die Erlaubnis zu Besuchen in der Stadt behalten.
    »Ich will tun, was ich kann«, sagte ich zu Miss Quinn.
    Mit ernster Miene setzte sie sich auf die Kante meines Bettes, »Wir versuchen herauszufinden, wo Joan steckt. Wir dachten, Sie hätten vielleicht eine Idee.«
    Plötzlich spürte ich, daß ich mit Joan nichts mehr zu tun haben wollte. »Ich weiß es nicht«, sagte ich kühl. »Ist sie denn nicht auf ihrem Zimmer?«
    Die Sperrstunde in Belsize war längst vorüber.
    »Nein, Joan hatte die Erlaubnis, sich heute abend in der Stadt einen Film anzusehen, und sie ist noch nicht zurück.«
    »Mit wem ist sie gefahren?«
    »Sie war allein.« Miss Quinn unterbrach sich. »Haben Sie eine Ahnung, wo sie die Nacht verbringen könnte?«
    »Sie kommt bestimmt noch. Sie wird durch irgend etwas aufgehalten worden sein.« Aber ich wußte nicht, was Joan an diesem Abend in dem biederen Boston hätte aufhalten sollen.
    Miss Quinn schüttelte den Kopf. »Die letzte Straßenbahn ist vor einer Stunde gefahren.«
    »Vielleicht kommt sie mit dem Taxi.«
    Miss Quinn seufzte.
    »Haben Sie es bei dieser Schwester Kennedy versucht?« fuhr ich fort. »Wo Joan gewohnt hat?«
    Miss Quinn nickte.
    »Und bei ihr zu Hause?«
    »Dahin würde sie nie gehen – aber wir haben es auch dort versucht.«
    Miss Quinn zögerte einen Augenblick, als könnte sie in dem stillen Zimmer noch irgendeinen Hinweis ausfindig machen. Dann sagte sie: »Nun ja, wir tun, was wir können« und ging hinaus.
    Ich schaltete das Licht aus und versuchte, wieder einzuschlafen, aber vor mir schwebte Joans Gesicht, unkörperlich und lächelnd, wie das Gesicht der Cheshire-Katze. Ich glaubte sogar, ihre Stimme zu hören, raschelnd und flüsternd im Dunkeln, aber dann erkannte ich, daß es nur der Nachtwind in den Anstaltsbäumen war …
    Erneutes Klopfen weckte mich in der frostgrauen Dämmerung.
    Diesmal ging ich selbst an die Tür.
    Vor mir stand Miss Quinn – in Habachtstellung, wie ein schwächlicher Sergeant beim Exerzieren, aber ihre Umrisse wirkten seltsam verwischt.
    »Ich dachte, Sie sollten es wissen«, sagte Miss Quinn. »Joan ist gefunden worden.«
    Bei diesem Passiv stockte mir das Blut.
    »Wo?«
    »Im Wald, bei den zugefrorenen Tümpeln …«
    Ich öffnete den Mund, aber es kamen keine Wörter heraus. »Ein Pfleger hat sie gefunden«, fuhr Miss Quinn fort, »gerade eben, auf dem Weg zur Arbeit …«
    »Sie ist doch nicht …«
    »Tot«, sagte Miss Quinn. »Ich fürchte, sie hat sich erhängt.«

Zwanzig
    Frischer Schnee deckte das Gelände der Anstalt zu – kein Weihnachtszucker, sondern mannshohe Januarmassen, die Schulen und Büros und Kirchen lahmlegten und für einen Tag oder mehr auf Notizblöcken und in Terminkalendern ein reines, weißes Blatt hinterließen.
    Wenn ich die Besprechung mit dem Ärzteausschuß überstand, würde mich in einer Woche Philomena Guineas großer schwarzer Wagen nach Westen fahren und vor dem Tor meines Colleges absetzen.
    Tiefster Winter!
    Ganz Massachusetts mußte in marmorner Ruhe versunken sein. Ich stellte mir die verschneiten Grandma-Moses-Dörfer vor, das Sumpfland, über dem dürre Teichkolben raschelten, die Weiher, in denen unter dickem Eis Frosch und Katzenwels träumten, und die klirrenden Wälder.
    Aber unter der täuschend sauberen, ebenmäßigen Schicht war sich die Topographie gleich geblieben, und statt San Francisco oder Europa oder den Mars würde ich die alte Landschaft mit Bach und Berg und Baum entdecken. In gewisser Hinsicht schien es eine Kleinigkeit zu sein, nach sechsmonatiger Unterbrechung dort wieder anzufangen, wo ich so vehement aufgehört hatte.
    Natürlich würden alle über mich Bescheid wissen.
    Mrs. Nolan hatte mir unverblümt gesagt, eine Menge Leute würde mir mit Vorsicht begegnen oder mir sogar

Weitere Kostenlose Bücher