Die Glücksbäckerei – Die magische Prüfung (German Edition)
voller Erleichterung auf. Die Tränen eines reinen Herzens waren womöglich nicht wundersam genug, um Lilys
Halt-den-Mund-Tarte
zu schlagen, aber mit ihnen hatte sie eine ganz gewöhnliche Schale Maisbrei in etwas verwandelt, was der große Meister köstlich fand. Er sah zu Rose hinunter und lächelte. »Mademoiselle Glyck, sagen Sie mir, was Ihr Geheimnis ist?«
Rose zuckte verlegen mit den Schultern und suchte nach einer wahrheitsgemäßen Antwort auf die Frage. Sie konnte ja nicht sagen:
Ich habe mit meinen Tränen gezaubert,
denn es waren mindestens zehn Kameras auf ihr Gesicht gerichtet. Mein Geheimnis ist meine Familie, dachte Rose. Und dazu gehörte nicht nur die Liebe und Unterstützung ihrer Geschwister und Eltern, sondern der Begriff »Familie« schloss ihre Vorfahren und das gesamte Erbe alter Traditionen und Lektionen, die in dem Backbuch standen, mit ein. Es war die machtvolle Geschichte ihrer Familie – das war ihr wahres Geheimnis. Diese Geschichte bedeutete ihr alles, und sie wollte sie zurückhaben.
»Meine Familie bäckt schon seit sehr langer Zeit«, sagte sie mit belegter Stimme. »Seit Jahrhunderten. Ich trete nur in ihre Fußstapfen.«
Jean-Pierre zwinkerte ihr zu. »Natürlich«, sagte er. »Ich verstehe.«
Er wandte die Aufmerksamkeit nun Lilys Tarte zu. Immer wieder drehte er den Teller herum, wie gebannt von dem schillernden Regenbogen im Teig. »Und nun koste ich die Kreation von Madame Le Fay.«
Rose wusste, die Tarte konnte ihn nicht mehr davon abhalten, nette Bemerkungen zu ihrer Polenta zu machen, denn diese waren ja bereits ausgesprochen. Wohl aber konnte die Magie der Tarte bewirken, dass er vergaß, nette Dinge gesagt zu haben.
Jean-Pierre Jeanpierre verspeiste eine Gabel voll Tarte. »Meine Güte«, sagte er, und seine Augen wurden auf einmal leblos und dunkel und seine Stimme roboterhaft. »Oh, die ist gut. Meine Güte, meine Güte, MEINE GÜTE , ist die gut. Die Prinzessin der Pasteten hat es wieder geschafft. Unfassbar.«
»Wirklich?«, fragte Lily. Sie krallte die Hände zusammen und presste sie an die Brust. »Ich bin ja so froh!«
Rose warf ihrer Mutter einen Blick zu und verdrehte die Augen. Lily und ihre Magie hatten wieder zugeschlagen.
Mit ihrem geschrumpften Gehilfen stand Lily Rose und ihrer Familie gegenüber. Auf der Bühne über ihnen stand die Trophäe der Gala, ein silberner Schneebesen, der nicht kleiner als zwei Meter war. Im Sockel befand sich eine Plakette, auf der stand:
78 . Gala des Gâteaux Grands
1 . Preis
Meisterbäcker
Jean-Pierre Jeanpierre legte seine Gabel nieder, lehnte sich zurück und klopfte sich den Bauch.
Lily klimperte ihm mit den Wimpern zu. »Hören Sie doch nicht schon zu essen auf. Es ist noch so viel leckere Tarte übrig!«
»Ich habe genug gekostet, um zu wissen, dass Ihre Tarte die beste ist, die ich je versucht habe«, erwiderte Jean-Pierre.
Der Meisterkonditor legte die Fingerspitzen aneinander und starrte in die Ferne, als müsse er über sein Urteil nachdenken. Die Unmengen von Zuschauern auf der Empore hielten gemeinsam erwartungsvoll die Luft an. Rose starrte verzweifelt zu Boden. Wie es schien, reichte bereits ein Bissen der Tarte, um Jean-Pierre Jeanpierre für sich zu gewinnen. Das war ja so ungerecht! Lily war eine Lügnerin und Betrügerin. Andrerseits, Rose hatte in dieser Woche auch ganz schön viel gelogen und geschummelt.
Aber war Lilys Schummeln nicht viel schlimmer als das von Rose, weil sie damit angefangen hatte? Oder spielte es keine Rolle, wer damit anfing?
Wie auch immer, das Backbuch der Familie Glyck war dahin …
»Aber dennoch –« Jean-Pierre zwirbelte seinen Schnurrbart, »– ist die Tarte nicht gaaanz so fein wie die Polenta von Mademoiselle Rosmarin Glyck.« Er dachte kurz nach, erhob sich dann und trat ans Mikrophon. Laut und begeistert rief er: »Rosmarin Glyck ist die Siegerin der achtundsiebzigsten
Gala des Gâteaux Grands!«
Unter der Menge brach Jubel und Applaus los, doch Rose war so sprachlos von der Ankündigung des Meisterkonditors, dass sie das gar nicht hörte. Sie hatte das Gefühl, durch einen langen Tunnel zu fallen, oder besser, in die Höhe zu schweben. Sie hatte das Backbuch zurückerobert, und zwar ohne zu schummeln – sie hatte mit Aufrichtigkeit gewonnen, mit der Aufrichtigkeit ihrer Tränen.
»Gratuliere,
mi hermana
!«, jubilierte Tymo und fiel ihr um den Hals. Die anderen Familienmitglieder umringten sie aufgeregt. Albert hob sich Rose auf die Schultern.
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