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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Martin Widmann
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waren schon ein Stück weit in die Erde getreten worden. Ich hörte das Rattern eines Zuges, das klang wie weit entfernter Donner, und ich spürte den Wind, der vom Fluss herüberkam und in den Pappeln rauschte. Von hier aus sah ich nur die Wagen der Nachbarn, keinen von den Urlaubern. Zum ersten Mal zählte ich sie. Mit unserem Container waren es neunzehn. Ich fragte mich, wie lange wir hierbleiben würden.
    Scholz kam nach einer halben Stunde. Er ging langsam auf seinen Wagen zu, und so wusste ich, dass er es sein musste, auf den ich wartete. Er war groß, trug eine schwarze Arbeitshose mit vielen Taschen, Stiefel und eine Lederweste, und in seinem Gang lag etwas Wiegendes, sein Hintern sackte bei jedem Schritt ein Stück nach unten, als wollte er sich setzen. Er winkte mit einer Hand, und aus der Nähe sah ich die grauen Bartstoppeln in seinem Gesicht, und ich dachte, dass er um einiges älter sein musste als mein Vater, dessen Bart noch dunkelbraun war.
    «Da sind ein paar Sachen für Sie», sagte ich.
    Er schaute auf den Karton. «Danke», sagte er. «Kannst ruhig du sagen. Wo sind wir denn hier.»
    Er ging zu dem Kotflügel links neben der Tür und schob seinen Arm darunter, holte eine Bonbondose hervor und nahm einen Schlüssel heraus.
    «Geld habe ich drinnen», sagte er.
    Ich sagte, ich würde warten.
    «Wie heißt du denn?», fragte er, während er die Rechnung anschaute, die meine Mutter geschrieben hatte.
    «Simon», sagte ich.
    «Kannst mich Bubi nennen.»
    Ich nickte.
    «Ich hab früher mal geboxt, deshalb», sagte er. «Verstehst du: Scholz, wie Bubi Scholz. Klar?»
    «Ach so», sagte ich, obwohl ich es in diesem Moment nicht verstand und erst später, als ich meinen Vater fragte, erfuhr, wer Bubi Scholz gewesen war. Bubi war in seinem Hänger verschwunden und kam jetzt wieder nach draußen, mit einem gerollten Zwanzigeuroschein. Anschließend blieb er auf der zerbrochenen Treppenstufe stehen und schob die Hände in die Hosentaschen.
    «Ihr wohnt jetzt fest hier, oder wie?», fragte er irgendwann.
    «Ja, fürs Erste zumindest», sagte ich.
    Er schnalzte mit der Zunge. «Ihr seid nicht die Ersten.»
    «Nicht?»
    Er schüttelte den Kopf. «Da war schon mal einer», sagte er. «Vor paar Jahren, als ich gerade neu hier war.»
    Ich fragte, wer das gewesen sei, obwohl es eigentlich eine unsinnige Frage war.
    «Der hieß Raimund», sagte Bubi.
    «Und wo ist der jetzt?»
    «Der ist gestorben.»
    «Hier?»
    «Nein, nicht hier. Er ist vom Krankenwagen abgeholt worden und nicht wiedergekommen.»
    Er schaute mich düster an.
    «Was ist denn passiert?», sagte ich.
    «Totgesoffen», sagte er und machte eine schnelle Bewegung mit der rechten Hand zum Mund. Es dauerte einen Moment, bevor er weitersprach. Anscheinend konnte er sich nicht entschließen, mehr dazu zu sagen. Schließlich tat er es doch, auch wenn seine Stimme zunächst einen Ton hatte, als wiederholte er nur etwas, was jeder ohnehin schon wusste.
    «Der bekam jeden Tag Nachschub von einer Frau, die auf einer Vespa hergefahren ist. Hat ihm Suff und Essen gebracht. Jeden Tag, morgens und abends. Das war seine Mutter, aber das wusste keiner, solange er noch gelebt hat.»
    «In welchem Wagen war das?», fragte ich.
    «Der ist nicht mehr da», sagte er. «War drinnen völlig versaut und hat gestunken wie ein toter Hund.»
    Mir fiel nichts ein, was ich dazu noch hätte sagen können, und ich war nicht sicher, was er von mir erwartete.
    «Dann geh ich mal wieder», sagte ich schließlich, und er nickte.
    «Man sieht sich», sagte er.
    Während ich zurückging, merkte ich, dass ich Bubis richtigen Vornamen gar nicht erfahren hatte, und ich musste an eine Aufgabe denken, die wir kurz vor Weihnachten in der Schule bekommen hatten, von der gleichen Lehrerin, die mich in der Pause angesprochen hatte. In der Ethikstunde sollten wir eine bekannte Person aussuchen, die den gleichen Vornamen hatte wie wir. Im Unterricht würden wir diesen Menschen den anderen vorstellen, als wäre er ein Freund von uns, und erklären, was wir an ihm bewunderten und selbst gern tun oder können würden von dem, was er tat oder konnte. Ich hatte mich in meinem Zimmer an den Tisch gesetzt und mir vorgenommen, eine Liste mit Namen aufzuschreiben, mit Bleistift, weil die Lehrerin wollte, dass wir bei ihr nur mit Bleistift schrieben. Doch nach einer halben Stunde hatte ich noch keinen einzigen gefunden. Weil mein Vater schlief, konnte ich mit ihm erst am Abend sprechen, bevor er sich auf den

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