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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Martin Widmann
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Modeladen, halbtags, weil sie wegen ihrer Bandscheiben nicht länger stehen konnte.
    «Soll ich da jetzt zurückrufen, oder was?», sagte sie.
    Ich wusste nicht, ob sie wirklich einen Rat von mir hören wollte. Ich fragte mich, was mein Vater an meiner Stelle getan hätte. Wahrscheinlich wäre es ihm gelungen, so zu tun, als ob er das Problem ernst nahm und sich bemühte, es zu lösen. Deshalb mochten ihn die Leute.
    «Wenn es wichtig ist, ruft der oder die bestimmt noch mal an», sagte ich und stand auf.
    «Dabei wollte ich mich heute eigentlich früh hinlegen», sagte sie. Es klang, als wäre das wirklich ein schwerwiegendes Problem, und auch wenn ich daran nicht glaubte, zögerte ich. Ich wollte sie nicht einfach allein lassen und sagte, meine Mutter würde am Montag wieder in die Stadt fahren. Falls sie dann wieder etwas brauche, brächten wir es ihr gern mit.
    «Oh», sagte sie. «Das ist nett.» Sie bedankte sich noch mal, trat zur Seite, um mich aus der Sitzbank rutschen zu lassen, und da sah ich die Schneekugeln auf dem Bord hinter meinem Rücken. Es waren mindestens zwölf oder fünfzehn, nebeneinander aufgereiht von einem Ende des Bretts bis zum anderen, und dahinter noch einmal fünf. Direkt vor mir standen sich zwei Pinguine gegenüber, in ihren schwarzen Fräcken und mit gelben Schnäbeln; in der nächsten Kugel sah ich die Tower Bridge, die ich aus dem Englischbuch kannte, außerdem den Turm von Pisa, das Brandenburger Tor, den Eiffelturm und verschiedene Gebäude, die mir nichts sagten, alle unter einer durchsichtigen Kuppel. Ganz links standen zwei Rehe unter einem Tannenbaum. Ich hätte gern eine in die Hand genommen und geschüttelt.

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    [5]
    Es gab auch solche, die sich seltener zeigten und, wenn sie da waren, für sich blieben. Unter ihnen waren Männer mit Frauen, auch einige Männer ohne Frauen, aber keine Frauen ohne Männer. Carlo gehörte zu denen ohne Frauen. An einem Samstagmorgen kam er zu uns und sagte, in seinen Wagen sei eingebrochen worden. Er besaß einen Hänger mit Vorbau ganz dicht am Zaun. Der Vorbau war aus Holz und zur Hälfte offen, eine überdachte Terrasse schloss daran an, auf der sich unter einer olivgrünen Plastikplane ein Haufen Zeug stapelte. An zwei Stellen wurde die Plane davon angehoben wie ein Zirkuszelt. Carlo war Sizilianer, wie er mir einmal erklärt hatte, als ich ihm über den Weg gelaufen war, was hier ständig passierte. Man traf immer jemanden. Italiener und Sizilianer sei nicht genau das Gleiche, hatte Carlo gesagt. Wenn ich mal hinführe, würde ich das begreifen. Sizilianer hätten anderes Blut.
    Wir wussten nicht viel mehr über ihn, als dass er irgendwo ein Lebensmittelgeschäft hatte, das Pizzerien und Gaststätten belieferte, und dass er jedes Wochenende herkam, manchmal schon am Freitagabend, manchmal auch samstags. Jetzt, während er oben auf unserer Treppe stand, griff er mit leeren Händen in die Luft, und seine Stimme kippte jedes Mal, kurz bevor er einen Satz zu Ende brachte. Obenherum trug er ein Unterhemd, seine Kopfhaut glänzte wie Kupfer durch die wenigen Haare, die er sonst seitwärts über den Kopf kämmte und die heute durcheinanderhingen. Ich selbst war noch im Schlafanzug, hatte aber die Tür geöffnet, als ich sein Gesicht durch den Spion gesehen hatte.
    Mein Vater ging mit Carlo nach draußen, um sich dessen Hänger genauer anzuschauen. Eine Stunde später war die Polizei da. Vom Küchenfenster aus sah ich einen Streifenwagen langsam über den Platz rollen, durch die gleiche Schneise, durch die sonst die Urlauber mit ihren Fahrzeugen auf die Wiese schaukelten. Eine junge Polizistin befragte die Nachbarn, ihr Kollege stand dabei. Die Leute bildeten einen Kreis um die beiden. Die Polizistin machte sich Notizen auf einem Block und stützte beim Schreiben einen Ellenbogen auf das Pistolenhalfter an ihrem Gürtel. Ich zog mich an und stellte mich dazu. Irgendwer sagte, es seien sicher Rumänen gewesen, weil die immer so leise kämen, dass keiner etwas sah oder hörte.
    Die Nachbarn blieben noch beieinander stehen, nachdem die Polizei abgefahren war, und sprachen über die Rumänen. Die Rumänen, sagte jemand, lebten in Erdlöchern im Wald. Sie würden sich von Kastanien, Eicheln und Pilzen ernähren und nur auf ihren Raubzügen in die Stadt kommen, danach verschwänden sie wieder im Wald. Andere nickten. Dabei reckten sie immer wieder die Köpfe, um über die Büsche und den Zaun zur Brücke hinüberschauen zu

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