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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Martin Widmann
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    [1]
    Alles, was zwischen dem letzten Frühjahr und dem Winter geschah, hat mit dem Container zu tun, weil es damit anfing, zumindest für meine Mutter und mich. Diese neun Monate waren die letzten, die wir alle zusammen verbrachten, und ich weiß nicht, ob ich irgendetwas daran ändern würde, wenn ich könnte. Vielleicht wünsche ich es mir irgendwann, wenn mehr Zeit vergangen ist und ich älter bin. Das Seltsame ist, dass es mir vorkommt, als wäre es wirklich schon sehr lange her, sobald ich anfange, davon zu erzählen.
    Es war an einem Sonntag im Februar, und es fiel ein dünner Regen, in dem alles, was glatt war, kalt glänzte. Der Container sah aus wie ein riesiger weißer Schuhkarton. Er stand auf einem gemauerten Untersatz, fast einen Meter über dem Boden, eine Metalltreppe führte an die Eingangstür, und an einer Seite ragte eine Satellitenschüssel von der Wand wie ein Ohr. Am Fuß der Treppe hatte sich eine Pfütze gebildet, in der die erste Stufe gerade noch sichtbar war. Ein löchriges braunes Blatt schwamm darin und eine zertretene Zigarettenschachtel leuchtete daneben rot im nassen Gras.
    «Seit diesem Tag hätten wir wissen müssen, dass die Geschichte nicht gut ausgeht», sagte meine Mutter später. Sie selbst hatte vor kurzem eine Umschulung abgebrochen und auch keine guten Argumente, aber sie wollte nicht das ganze Jahr über zwischen Zelten und Wohnwagen leben. Ich war fünfzehn, und ich ging noch zur Schule, deshalb stand fest, dass ich dabei sein würde, egal, wofür meine Eltern sich entschieden. Mehr als einmal fragten sie, was ich darüber dachte, aber ich sagte, ich wüsste es nicht. Und ich wusste es wirklich nicht.
    Mein Vater war schon seit längerem unzufrieden damit gewesen, wie die Dinge für ihn liefen, und als ihm die Stelle auf dem Campingplatz angeboten wurde, glaubte er, es wäre das Beste, auch da zu wohnen, wo er arbeiten würde. Er war damals Aufseher bei einer Wach- und Schließgesellschaft, die auf Taxis und in der Zeitung mit dem schwarzen Schattenriss eines Mannes warb, der eine Taschenlampe hielt. Ein anderer schwarzer Mann zuckte vor dem Lichtstrahl zurück und hielt seine Hände vors Gesicht wie zwei Krallen. Darunter stand: CLAVIS. WERKSCHUTZ & OBJEKTSICHERHEIT . Nachts saß mein Vater vor einer Wand aus kleinen Monitoren und machte Runden auf dem Gelände einer Fabrik, die Küchentücher und Klopapier herstellte, und er sagte oft, das einzig Gute daran sei, dass wir so viel Klopapier umsonst haben konnten, wie wir brauchten. Ich wusste, dass er lange nach einer anderen Arbeit gesucht hatte. Er sagte, die Nachtschichten machten ihn krank und er sei keine Eule, die nur im Dunkeln rauskommt. Er brauche die Sonne.
    Nur zwei Tage später entschloss mein Vater sich, das Angebot anzunehmen. Zuletzt hatte er gesagt, es sei die einzige Möglichkeit, das Auto zu behalten, das längst viel zu teuer geworden sei, aber offenbar hatte er schon um einiges früher von der Sache erfahren und darüber nachgedacht, ohne meine Mutter und mich einzuweihen. Er hatte den ehemaligen Verwalter getroffen und sich erklären lassen, was er zu tun hätte, und er sprach darüber so, als wäre es eigentlich nichts Neues mehr. Die Ärmel seines karierten Hemdes hatte er bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt, und während er uns von seiner Arbeit erzählte, rieb er sich das Kinn. Sein Kinn hatte ein Loch, eine Spalte in der Mitte, die besonders deutlich zu sehen war, wenn er sich frisch rasiert hatte. Es war keine Narbe, sie war einfach da und er hatte sie schon immer, seit er ein Kind war. Manche fanden sie markant.
    «Ich soll für die Leute da sein. Reparaturen erledigen, im Winter ein Auge auf die Wohnwagen haben, den Rasen mähen, nach dem Rechten sehen eben», sagte er. Auch mit unserem Vermieter hatte er schon telefoniert und ihn gebeten, uns schnell aus unserer Wohnung zu lassen, trotz Mietvertrag, Kündigungsfrist und solchen Dingen, die er den
täglichen Krieg gegen das Böse
nannte. Das war seine Art. Wenn er redete, konnte mein Vater fast alles leichter oder besser aussehen lassen, als es eigentlich war. Und obwohl ich nicht wusste, wie er das schaffte, hatte ich oft erlebt, dass er recht behielt und dass ihm auch Leute glaubten, die ihn nicht kannten. «Der ist natürlich froh, uns loszuwerden», sagte er jetzt.
    «Warum denn?», fragte meine Mutter.
    «Weil er ein Arschloch ist, deshalb.»
    Vielleicht dachte er, dass meine Mutter ihn durch ihr Schweigen zu einer

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