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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Martin Widmann
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Mund fühlte sich trocken an, dennoch blieb ich lange so sitzen. Ich rieb meine Hände an den Ärmeln, schob sie dann unter den Kragen meines T-Shirts und ließ sie dort. Nur weil das Kratzen im Rachen immer stärker wurde und ich etwas trinken wollte, stand ich überhaupt wieder auf. Aus einem Fach neben der Spüle nahm ich ein Glas und hielt es unter den Hahn. Er gab nicht viel her, und da fiel mir ein, dass auch das Wasser über den Winter abgestellt worden war. Ich suchte in den Regalen nach Flaschen und öffnete den Kühlschrank. Er war leer und blieb dunkel. Ich wusste, dass mein Vater die Nachbarn gebeten hatte, über den Winter keine angebrochenen Lebensmittel in ihren Wagen zu lassen, wegen der Ratten. Bubi hatte sich daran gehalten, es war nichts da.
    Ich zog auch den anderen Rollladen vor dem Fenster hinter der Spüle nach oben. Im Küchenschrank darunter fand ich einen Plastikbecher mit Röstzwiebeln, eine Schachtel Salzcracker, eine halbvolle Flasche Korn und ein Sechserpack Beck’s, das ich wahrscheinlich einmal selbst hergebracht hatte. Drei Flaschen waren noch übrig, also nahm ich eine und öffnete sie, dann schraubte ich die Kappe von der Schnapsflasche, roch daran und überlegte, ob es mir helfen würde, warm zu werden, wenn ich davon trank.
    Der erste kleine Schluck schmeckte wie Medizin und brannte im Rachen, als er sich seinen Weg die Kehle hinunterschmolz durch den Hals. Trotzdem kippte ich noch einen zweiten, größeren hinterher. Ich hatte auf einmal Angst zu erfrieren oder mich zu unterkühlen. Das Bier und die Cracker trug ich zum Bett, und während ich aß und trank, flog eine Mücke wie aus dem Nichts auf mich zu und setzte sich neben mir an die Wand. Sie war so langsam, dass ich sie mit einem Bindfaden hätte erdrosseln können, und als ich meine Hand zu einer Faust ballte und gegen die Wand schwingen ließ, hatte sie keine Chance.
    Neben der Spüle stand ein Radio, von der Art, wie ich sie manchmal beim Sperrmüll gesehen hatte, ein großer Kasten mit einem Henkel zum Herumtragen. Lange schaute ich auf das Ding, bevor ich schließlich aufstand und es befühlte. Ich rückte den schwarzen Schalter in alle möglichen Positionen, ohne dass etwas geschah. Dann hob ich es an, drehte es um und öffnete die Abdeckung des Batteriefachs auf der Rückseite. Ich bewegte die Batterien hin und her und versuchte es von neuem. Aus den Lautsprechern kam ein schrilles Pfeifen, während ich das Rädchen drehte und den weißen Plastikschieber auf der Skala vor und zurück fahren ließ, doch dann drehte ich langsamer und fand einen Sender mit Musik. Klassische Musik hatte mich, wenn wir sie in der Schule hören mussten, nie interessiert, all das Gerede über Opern und Arien. Aber was ich jetzt hörte, gefiel mir, und ich stellte das Radio etwas lauter, ging zurück zum Bett und hörte der Musik zu.
    Nachdem das Stück zu Ende war, blieb es eine ganze Weile völlig still, bevor eine Männerstimme ruhig und langsam zu sprechen anfing. «Das war das
Stabat Mater
von Anton Dvořák. Wir setzen unser Nachtkonzert fort mit Beethovens Klaviersonate Nummer  17 in d-Moll. Diese Sonate trägt den Titel
Der Sturm
, frei nach William Shakespeares berühmtem Drama. Es ist ein Zauberspiel, sein Thema ist die Erlösung, die Entstehung des Guten aus dem Bösen und des Lebens aus dem Tod. Sie hören eine Aufnahme von Swjatoslaw Richter aus dem Jahr 1961 .»
    Den Vornamen des Pianisten verstand ich nicht in dieser Nacht, ich fand ihn erst später heraus, als ich im Internet danach suchte. Ich hatte nicht geahnt, dass er so bekannt war. Aber aus irgendeinem Grund glaubte ich, etwas ganz Besonderes und Seltenes zu hören, als nach einer weiteren langen Pause die Musik begann. Ich deckte mich mit der Decke aus dem Auto zu, die an manchen Stellen noch feucht war, zog meine Hände in die Ärmel meiner Jacke und rollte mich, die Beine angewinkelt, zu einem Knäuel zusammen, weil ich hoffte, die Kälte so besser aushalten zu können. Es half nicht viel, doch ich merkte, dass der Alkohol mich zwar nicht aufgewärmt, mir aber die Glieder gelöst und mich benommen gemacht hatte.
    Als ich aufwachte, hätte ich nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war. Das Radio spielte noch immer, aber der Empfang war gestört. Ein rasselndes Rauschen schlug wie eine Welle über dem zusammen, was der Sprecher erzählte. Ich legte mir die Wolldecke um die Schultern, stand auf, um das Radio auszuschalten, und da sah ich, dass es draußen noch

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