Die Göttin im Stein
angekommen, und deine Wolfsbrüder haben gesagt, du seist im Wald, und Vater hat doch gesagt, ich soll dich suchen, aber ich wußte nicht, ob du es wirklich warst, und da ...«
»Vater?« unterbrach ihn Lykos. »Er schickt dich zu mir?«
»Ja. Ich soll dir sagen, du sollst zu Hause vorbeikommen, ehe du zum Gastmahl des Rösos aufbrichst!«
Lykos runzelte die Stirn. »Wird Vater nicht bei Rösos sein?« Temos sah zu Boden. »Ich weiß nicht«, erwiderte er zögernd. »Er ist seit Tagen nicht mehr ausgeritten.«
»Ist er krank?«
Temos hob die Achseln. »Er redet nicht darüber. Aber meine Mutter macht sich Sorgen um ihn.«
»So. Dann wollen wir keine Zeit verlieren. Hilf mir, den Keiler zur Hütte zu bringen!«
Lykos wies den Jungen an, den Lastschlitten zu schieben, während er selbst wieder zog.
Sein Vater ...
Wenige Male hatte er ihn in den letzten Jahren gesehen und es nicht vermißt. Nur bei den großen Gastgelagen war er ihm hin und wieder begegnet, die der König oder vornehme Familienväter gaben und zu denen auch die Wolfskrieger geladen waren: seltene Gelegenheiten höfischen Glanzes, die das wölfische Kriegerleben unterbrachen.
»Wie lang deine Haare gewachsen sind«, sagte Temos schüchtern.
Lykos drehte sich um. Seine Augen blitzten. »Es ist ja auch schon sechs Sommer her, seit ich zum ersten Mal einen Mann getötet habe und sie wachsen lassen durfte! Aber was ist mit dir? Ich war nicht viel älter als du, als ich zu den Wölfen ging und das Haar geschoren bekam! Wie lang willst du noch im Kinderhaar herumlaufen?«
Temos wurde rot. »In einem Jahr will ich mich den Proben unterziehen!«
Lykos nickte. »Na dann!«
»Sag mir, Lykos«, begann der Junge und brachte dann stockend hervor: »Sind die Proben sehr schwer?«
»Nicht sehr!« erwiderte Lykos mit beißendem Spott. »Sie machen dich stark – oder sie bringen dich um!«
Temos wurde bleich. Lykos lachte: Warte nur, Kleiner, aus dir wird auch noch ein Mann!
»Jetzt komm! Schieb!« befahl er. Er beugte sich nach vorn, zog an der Last und ging stetig voran. Die Erinnerung ging mit ihm:
Er trug noch seinen Kindernamen und das Kinderhaar. Er war ein Prüfling. Und er fürchtete sich.
Alles hatte er ertragen: die einsamen Tage und Nächte im Wald, die harten Waffenübungen, die tagelangen Gewaltmärsche, die Hetzjagden, bei denen er mit den Hunden hatte Schritt halten müssen, das nächtliche Wachen, den Hunger, den Durst, das Schweigen, die immer neuen Erniedrigungen durch den Meister und die Wolfskrieger. Zahllose Tode war er gestorben, und ebensooft hatte er zitternd sein wiedergewonnenes Leben in Empfang genommen. Und nun hing er hier gefesselt in der Eiche, wie einst der göttliche Krieger gefesselt hing im Weltenbaum. Die letzte Prüfung sollte er bestehen und sein Blut opfern. Aber da war keine Ehrfurcht, kein Stolz und kein Mut. Da war nichts als Angst.
Wenn er schrie, wenn er nur einen Laut von sich gab, würde er sterben.
Ein bösartiges Zischen hinter ihm, schrecklich vertraut. Er zuckte zusammen, sein Körper erkannte den Schmerz, noch tobe
die lange Rute ihn zum ersten Mal traf. Ein Hieb nach dem anderen brannte sich in seinen Rücken, fraß sein Fleisch. Er preßte die Zähne zusammen, die Lippen aufeinander.
Durch die Macht der Schläge hin und her gebeutelt, wurde er an den Baumstamm geschleudert.
Kein Atemholen.
Blut rann warm an ihm herab, tropfte in den schwarzen Boden. Die Totenhunde, Hüter des Reiches der ruhmlosen 'Toten, leckten es auf. Ihre Augen glühten. Sie fletschten die Zähne, knurrten.
Sie warteten, daß er schrie.
Rote Nebel vor seinen Augen.
Göttlicher Krieger, dein Tod, mein Tod.
Mach ein Ende.
Aus dem roten Nebel wurde die Sonne geboren, drehte sich in rasendem Wirbel, schrillte in gleißendem Weiß.
»Du hast alle Proben bestanden«, sagte Temos.
»Sonst wäre ich kein Wolfskrieger!« erwiderte Lykos knapp.
»Erzählst du mir davon?« bat der Junge.
»Was fällt dir ein!« fuhr Lykos auf. »Du weißt, daß kein Uneingeweihter von den Proben erfahren darf!«
»Ich mein' ja auch nicht die Proben, sei nicht zornig, bitte, ich mein', was danach geschehen ist, was du als Wolfskrieger gemacht hast, was du eben erzählen darfst, bitte!«
Die Ablehnung schon auf der Zunge, wandte Lykos sich zu dem Bruder um. Sah die hingebungsvolle Bewunderung in dessen Gesicht. Und konnte nicht widerstehen.
»Na gut. Also hör. Aber vergiß das Schieben nicht dabei!« Lykos zog gleichmäßig an dem
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