Die Göttin im Stein
müssen sie tragen. Und wenn noch Frauen leben sollten aus ihrem Dorf, wenn Kugeni noch lebt, dann die erst recht!
Sie sind nicht im Osten geblieben, die Söhne des Himmels! Das große Moor und der See haben sie nicht aufgehalten! Nur die Sandberge trennen uns noch von ihnen. Nur die Sandberge, da hattest du recht, die Sandberge halten sie auf.«
Sie brach ab. Sie konnte es nicht aussprechen, nicht hier in der Finsternis.
Aber nie würde sie vergessen, wie Zirrkan nach der langen Trennung so furchtbar verändert in ihr Dorf gekommen war und davon berichtet hatte, daß er seine Mutter zu den Heiligen Steinen begleitet und bei seiner Heimkehr das Dorf seiner Sippe zerstört vorgefunden hatte: eine Stätte grauenhafter Verwüstung. Nicht ein Haus hatte mehr gestanden – nur verbrannte Trümmer. Nicht ein Mensch hatte mehr gelebt – nur erschlagene, durchbohrte oder verkohlte Leichen von Männern und Kindern.
Nicht ein Überlebender, der berichten konnte, was geschehen war.
Aber die unmißverständliche Sprache der Spuren, und in der Eiche am Dorfplatz eine blutige Streitaxt der Söhne des Himmels: höhnisches Zeichen ihrer triumphierend eingestandenen Tat.
Zirrkan hatte kaum sprechen können, als er erzählte, daß er die Kinder seiner Frau und die seiner Schwester mit gespaltenem Schädel oder erwürgt vorgefunden habe. Seine Frau und seine Schwester aber habe er nicht gefunden – nicht eine Frau, nicht ein junges Mädchen.
Später hatten sie erfahren, daß Zirrkans Dorf nicht das einzige gewesen sei. Daß noch mehrere östlich der Sandberge gelegene Dörfer auf die gleiche grauenerregende Art überfallen worden seien, damals vor acht Jahren während der großen Trockenheit –
Da war etwas, ein halber Gedanke. Sie müßte ihn nur zu sich heranziehen. Aber sie war so müde.
Zirrkan, Geliebter, wo bist du? Welch schreckliches Unheil, und für mich war es der Anfang vom Glück. Wäre deine Familie nicht gemordet worden, so wärest du damals nicht zu mir gekommen, um bei mir Trost zu suchen. Was wäre ich ohne deine Liebe. Ich sollte so nicht denken, es ist schlecht von mir. Zirrkan, warum hast du nicht Abschied von mir genommen? Deine Mutter hat dich weggeschickt. Was ist das für eine Reise, von der ich nichts wissen darf, nicht einmal ich –
Sie ließ sich zur Seite gleiten und schlief ein.
2
Seit Tagen war er seiner Fährte gefolgt, nun endlich konnte er gegen den Wind an ihn herankommen: den mächtigsten Keiler, den er je gesehen hatte. Das erste Morgenlicht zeichnete die massig-gedrungene Gestalt.
Dort unter den Eichen brach der Keiler mit seinen gewaltigen Hauern den steinharten Boden auf – nur wenige Schritte von Lykos entfernt. Nah genug, daß das Tier sich, erst verwundet, zum Kampf stellen würde.
Dies war die äußerste Prüfung. Wenn er den Pfeil in die Seite
des Schwarzwildes schoß, gab es kein Zurück mehr.
Wer einen solchen Keiler reizt, fordert den Tod heraus. Lykos ruckte leicht mit der Schulter. Lautlos glitt der Bogen
in seine Hand.
Einmal noch prüfte der junge Mann den Sitz der Streitaxt am Waffengürtel, vergewisserte sich, daß der starke Eibenholzspeer griffbereit neben ihm lehnte.
Behutsam legte er den Pfeil an.
Ein letzter Augenblick des Innehaltens: Aus eigener Kraft hält kein Mann diesem Untier stand, kein Mensch.
Göttlicher Krieger, Herrscher der Wölfe, du willst es. Ich folge dir. Nimm von mir Besitz.
Fest zog er Bogen und Sehne auseinander, dehnte die Spannung, schoß.
Die Bogensehne sang: triumphierendes Lied von Mannesmut und Gottvertrauen. Der Pfeil traf den Keiler, blieb in seiner Seite stecken.
Der Keiler klagte laut, fuhr herum. Schauerlich tönte das erregte Wetzen seines Gewaffs.
Lykos ließ den Bogen fahren, riß den Speer heran.
Als sich seine Finger um den glatten Schaft schlossen, geschah es: Lykos der Mann – er hörte auf zu sein.
Feuer schoß aus dem Speer in seine Glieder, glühend pulste das Blut. Die feinen Haare in seinem Nacken sträubten sich. Die Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, die Lippen bleckten drohend die Zähne.
Lykos der Wolf – er war geboren.
Geduckt, das linke Bein gebeugt, das rechte nach hinten gestützt, den Speer unter die Achsel geklemmt und mit beiden Händen fest umklammert, die Füße mit aller Kraft im Boden verankert, Spannung in jeder Faser seines Körpers: So erwartete er den Keiler.
Mit den überscharfen Sinnen des Wolfes nahm er den beißenden Geruch des Keilers wahr, hörte dessen
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