Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Göttin im Stein

Titel: Die Göttin im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Beyerlein
Vom Netzwerk:
Lastschlitten. Er setzte seinen Stolz darein, trotz der Anstrengung nicht zu keuchen, und
    erzählte dabei im Tonfall der Geschichtenerzähle r , als sitze er am Feuer im Kreis der Krieger:
    »Als ich die harte Zeit der Prüfungen hinter mir hatte und mit geschorenem Kopf in den Bund der Wolfskrieger aufgenommen war, schämte ich mich, mir täglich den Kopf rasieren zu müssen. Und ich setzte alles daran, die letzte Probe meiner Mannbarkeit abzulegen und im Kampf einen Mann zu töten. Also schloß ich mich einer Zwölferschar von Wolfskriegern an und beteiligte mich an einem Überfall auf ein Dorf des Alten Volkes. Es war das erste Mal, daß ich eines ihrer Dörfer sah. Aber ich war zu jung und zu unerfahren, und statt im Kampf einen Mann zu töten, wurde ich selbst verwundet. Die Wolfsbrüder lachten über mich. Die Schmach raubte mir beinahe den Verstand. Und ich schwor, allein im Wald zu leben, bis ich das Recht erworben hätte, das Haar wachsen zu lassen.«
    Der Bruder gab einen erstickten Laut von sich.
    »Viele Monde vergingen, die ich einsam verbrachte. Ich grub mir Erdlöcher und schlief darin wie eine Wölfin, ich ertrug die Kälte des Winters und den Regen des Frühjahrs. Ich folgte der Fährte von Ur, Wildschwein und Hirsch und der Spur von Wolf und Bär, unzählige Male sah ich bei der Jagd dem Tod ins Auge, forderte ihn heraus, wie es dem göttlichen Krieger gefällt. Pausenlos übte ich mich im Bogenschießen und im Gebrauch der Streitaxt. Erst als ich sicher sein konnte, daß ich bereit war, suchte ich mir eine neue Prüfung. Und da
    ich bei der ersten Prüfung so schändlich versagt hatte, wählte ich die zweite Prüfung schwer.«
    »Wie schwer?« flüsterte Temos mit Schaudern.
    »Ich griff zwei kräftige Bauern an, die im Wald Bäume fäll-
    ten. Zwei Beile gegen meine Axt, zwei starke Männer gegen einen Wolf. Ich habe sie beide getötet.«
    Du hast sie beide getötet«, wiederholte Temos andächtig.
    Lykos hielt an, ließ den Gürtel los, mit dem er den Last-Schlitten gezogen hatte, streckte die schmerzenden Schultern lind dehnte die Brust. Er spürte wieder den Augenblick, in dem er den Schaft der Waffe umfaßt hatte und die göttliche Wut über ihn gekommen war wie immer in diesem Augenblick der Verwandlung, er spürte die Raserei jenes Kampfes und dann das tiefe Glück, als ihm bewußt geworden war: Er hatte sein Leben bis zum Äußersten gewagt und die Probe erfüllt. Er hatte dem göttlichen Krieger gedient. Denn in nichts offenbarte sich die Macht und Herrlichkeit der Himmlischen mehr als in der Gewalt über Leben und Tod. Er war ein vollgültiger Wolfskrieger geworden.
    »Danach schloß ich mich mit den vier Wolfsbrüdern zusammen, die du gesehen hast, und wir sind noch heute eine Schar«, sagte er zufrieden.
    Die Augen des Bruders hingen an ihm. »Und dann? Vater sagt, du hast viele Heldentaten vollbracht. Aber nie erzählt er mir etwas davon! Was hast du alles gemacht?«
    Lykos grinste. »Alles? Da würde ich morgen noch reden! Nur soviel:
    Wir üben uns in der Jagd. Wir folgen dem König, wenn er uns ruft. In jedem Kampf sind wir die, auf die er zählen kann. Auf sein Geheiß schließen wir uns zu größeren Scharen zusammen, werfen uns Raubzügen des Nachbarstammes entgegen und messen uns mit den mächtigen Bärenkriegern der Cor. Längst habe ich aufgehört zu zählen, wie viele Männer ich getötet habe.«
    »So viele?« stammelte Temos.
    Lykos nickte. Der Bruder war nur ein Knabe. Dennoch tat seine Bewunderung wohl. Freundlich fuhr Lykos fort: »Für den König rauben wir Vieh im Nachbarstamm der Cor oder beim Alten Volk. Ich kann dir nicht sagen, wie viele Rinder, Ziegen und Schafe wir ihm schon zugetrieben haben. Mit der Opferung des von uns geraubten Viehs werden die Himmlischen geehrt. So bringen wir den Segen über das ganze Land.
    Doch vor allem dienen wir dem göttlichen Krieger, denn wir sind ihm geweiht.
    Wehe dem, der sich uns in den Weg stellt. Ur oder Bär, Keiler oder Wolf, Krieger oder Heer, wir fürchten nichts und niemand. Kein Tier ist uns so wild, kein Mann so wehrhaft, daß wir vor ihm das Weite suchen würden. Und was mich betrifft – die Ruhmeslieder meiner Heldentaten werden bei den Gastmählern gesungen.«
    Temos holte tief Luft. »So will ich auch einmal werden!«
    »Ja? Dann beweis erst mal, daß du Kraft hast, und schieb anständig«, erwiderte Lykos, nahm den Gürtel und begann wieder zu ziehen.
    Schweigend kämpften sie sich nun voran. Der Junge mühte

Weitere Kostenlose Bücher