Die goldene Meile
Landadresse gegeben.
Er wusste Bescheid über Renko, der allen andern etwas vormachte. Tat wie ein Chorknabe, nur erschossen echte Chorknaben keine Menschen. Sie waren sogar einen Teil des Weges zum Dorf zusammen gegangen, und er hatte sich ein Zimmer auf einem Bauernhof genommen, für wenig Geld. Er habe zu hohen Blutdruck, hatte er erzählt, und sein Arzt habe ihm dringend geraten, sich eine ruhige Gegend zu suchen, mit viel frischer Luft und Quellwasser. Ein Aufenthalt auf dem Lande sei die beste Medizin. Dann erwähnte er ab und zu beiläufig, die Krönung seines Urlaubs hier wäre es, im See zu schwimmen.
Er drängte nicht zu sehr und fing auch nicht zu früh damit an, denn das Mädchen würde ihn erkennen. Zu Renkos Gruppe gehörten fünf Leute - sechs, wenn man das Baby mitzählte. Er würde sie alle auf einen Streich erwischen müssen. Aber solche Probleme gefielen ihm. Er liebte die Denksportaufgabe mit Ziege, Huhn, Fuchs und einem Boot. Alles Mögliche war zu berücksichtigen, zum Beispiel die Strömung und das Blut im Wasser. Renko würde er zuerst erledigen müssen, dann den Jungen und die Frauen. Das hieß, dass er Renko allein schnappen musste. Er musste sich immer noch an Renkos Tagesplan halten: »Früh zu Bett und früh aus den Federn.«
Im Dorf gab es einen Laden, der gebrauchte Landwirtschaftsgeräte in Kommission verkaufte. Dort erstand er einen Spaten, eine Sense und einen Schleifstein. Schon wenn er die Sense schwang, ging es ihm besser. Allmählich hasste er die langen Gespräche im Zug, die gezwungene Jovialität. Es würde Ilja nicht wieder zum Leben erwecken, aber er würde sich wohler fühlen. Es gab eine Deadline: Renko hatte ihm anvertraut, sie würden am Ende des Sommers in die Stadt zurückkehren. Der Gärtner erkundete Renkos Datscha. Das war nicht ohne Risiko. Renko hatte ihn dabei gesehen, und er hatte sich eine Erklärung einfallen lassen müssen: Er sammele Pilze. Zum Glück hatte es in der Nacht geregnet, und es gab Pilze, braun und rund wie Brotlaibe. Renko hatte nach dem Jungen gerufen: Er solle kommen und sich das ansehen. Der Gärtner hatte eine schwache Blase vorgeschützt und sich verdrückt. Dann hatten sie ihn zu einer Party eingeladen. Er hatte sich entschuldigt, aber dann hatte er sie mit dem Fernglas beobachtet. Renko meinte, er solle nicht so schüchtern sein.
Arkadi entdeckte ihn sofort, als er den Zug bestieg. Der Mann war wie ein Python, der sich unter Regenwürmern verstecken wollte. Seine Haut war fleckig und an manchen Stellen dunkel wie Anthrazit. Stirn und Kinn waren klobig, und er hatte breite, muskulöse Hände. Seit Arkadi wieder in sein Amt eingesetzt worden war, hatte Surin seinen Ermittler mit größter Rücksichtnahme behandelt, als kämpften sie sich beide zur Wahrheit vor, jeder auf seine eigene Weise.
Der Mann behauptete, er heiße Leopold Lozowski, sei Ingenieur aus Moskau und mache allein Urlaub. Arkadi hatte den Namen überprüft: »Leopold Lozowski« war Ingenieur und hatte Urlaub. Trotzdem trug Arkadi von da an seine Pistole bei sich. Die Frage war, sollten sie in der Datscha bleiben oder in die Stadt zurückkehren? Allerdings könnte eine Unterbrechung der Routine riskant sein. Maja nannte ihn den Gärtner und sagte, er werde niemals aufgeben. Sie und ihr Baby würden immer in Angst leben. Anja sagte, sie sei schon tot gewesen und habe nichts mehr zu verlieren. Schenja betätigte sich eifrig als Beschützer der Familie. Sie würden ohne Handys auskommen müssen, denn in der Datscha gab es keinen Funkkontakt und kein Festnetz, und jede Hilfe war zu weit entfernt. Man solle einen Hund anschaffen, schlug Emma vor.
Katja war der schwache Punkt. Das Baby wurde nachts um zwei, um vier und um sechs gestillt, und Schenja saß immer mit einer Waffe dabei. Arkadi fuhr nicht mehr ins Büro. Sie konnten spüren, wie der Gärtner im Dunkeln herumstrich. Wie jede Belagerung war alles eine Frage der Geduld. Leopold Lozowski hatte eine reine Weste und verstieß gegen kein Gesetz, trotzdem machte sich Angst durch Anfälle von Klaustrophobie bemerkbar und dem Widerstreben, das Haus zu verlassen. Tagsüber war Anja streitsüchtig. Nachts, im Bett, drückte sie sich an Arkadis Rücken und klammerte sich trostsuchend an ihn.
Nur Maja und Schenja waren zu Hause, als Lozowski mit einer Axt an der Hintertür der Datscha erschien. Er hatte das Hemd ausgezogen, um Holz zu hacken, und die Narbe an seiner Schulter sah roh und frisch aus. Er hatte den breiten
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