Die Goldhaendlerin
Herzschläge an, denn in der nächsten Kammer lag ein blutüberströmter Körper.
Lea presste die linke Hand auf den Mund, um ihre Wut und ihren Schmerz nicht laut hinauszuschreien. Der Tote war Samuel. Die Plünderer hatten ihm die Schläfenlocken abgeschnitten, die ihn als gläubigen Aschkenasi kennzeichneten, und ihm dabei tiefe Schnitte beigebracht. Während des Kampfes hatte man ihm die Kleider vom Leib gerissen, und sein mit Wunden und Trittspuren übersäter Leib verriet, wie heftig er sich gewehrt haben musste. Sein Widerstand war jedoch vergebens gewesen, denn man hatte ihn schließlich mit den eigenen Gebetsriemen erdrosselt, und noch im Tod zeigte sein Gesicht einen ohnmächtigen Zorn. Lea konnte sich lebhaft vorstellen, wie Samuel sich der plündernden Meute in den Weg gestellt hatte, doch ebenso gut hätte er versuchen können, die Wasser des Jordans umzuleiten oder den Tempel in Jerusalem wieder zu errichten.
Einen Augenblick verfluchte sie ihn für seine Uneinsichtigkeit, denn mit ihm verlor sie den einzigen Menschen, der ihr wirklich etwas bedeutet hatte. Dann aber schlug sie sich auf den Mund, denn sie schämte sich für ihre bösen Worte, und sprach ein kurzes Gebet. Als sie weiterging, klammerte sie sich an die Hoffnung, dass Samuel mit seinem Opfer den anderen die Flucht ermöglicht hatte. Die nächste Kammer war leer und ohne Kampfspuren, und Lea wurde etwas leichter ums Herz. Im Wohnraum aber stieß sie gleich auf mehrere Tote. Zwei davon waren ihr unbekannte junge Männer, wohl Mitglieder der Sarninger Gemeinde, und der dritte Gerschom, der Leibdiener ihres Vaters. Der alte Mann hatte offensichtlich versucht, seinen Herrn zu verteidigen, denn er war buchstäblich in Stücke gerissen worden. Hinter ihm lag Jakob Goldstaub mit ausgebreiteten Armen über einer kleinen, verkrümmten Gestalt, in der Lea erst auf den zweiten Blick ihren Bruder Elieser erkannte.
»Oh Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, warum lässt du zu, dass man dein Volk so quält?«, stöhnte sie auf. Da ihr Vater auf den ersten Blick unverletzt erschien, kniete sie neben ihm nieder und legte ihr Ohr auf sein Herz. Die Hoffnung, er könnte noch leben, verflog schneller, als sie aufgekeimt war. Jakob ben Jehuda, der Jude von Hartenburg, war tot.
Ein leises Jammern ließ Lea aufhorchen. Sie starrte auf ihren jüngeren Bruder und rieb sich die Augen. Elieser hatte sich unzweifelhaft bewegt. Sie rutschte auf Knien zu ihm hin und legte die Finger an seinen Hals, um den Puls zu prüfen. Er schlug schwach und stockend, aber vernehmlich. Lea unterdrückte einen Jubelruf, sprang auf und versuchte, den schon erstarrten Körper ihres Vaters von Elieser herunterzuziehen. Dabei murmelte sie Totengebete und entschuldigte sich zwischendurch, denn es gehörte sich nicht, den Leichnam eines frommen Juden so achtlos herumzuzerren. Obwohl Jakob Goldstaub ein kleiner, magerer Mann gewesen war, verging schier eine Ewigkeit, bis Lea ihn zur Seite gezogen hatte, und trotz ihrer Vorsicht stieß ihr Bruder bei jeder Bewegung des Körpers über ihm schwache Jammerlaute aus. Aber er reagierte weder auf ihre Fragen noch auf ihre tröstenden Worte.
Als Lea Elieser von der Last des Toten befreit hatte, sah sie, dass sein rechtes Bein und sein rechter Arm in unnatürlichem Winkel vom Körper abstanden. Man hatte ihm die Knochen gebrochen und mehrere klaffende Wunden beigebracht, aus denen immer noch Blut sickerte. Für einen Augenblick stand sie ratlos da und schlug vor Verzweiflung die Hände vors Gesicht.
Der Junge musste so schnell wie möglich zu einem Arzt gebracht werden, doch wer würde sich in dieser Stadt noch trauen, einem Juden zu helfen? Gretchen war sicher dazu bereit, aber Lea wagte es nicht, die Freundin zu holen, denn wenn Peter Pfeiffer erfuhr, was sie im Sinn hatte, würde er sie beide so lange in den Keller sperren, bis Elieser tot war. Nein, sie musste ihren jüngeren Bruder aus eigener Kraft hier herausbringen.
Als Lea Elieser aufhob, stieß er so spitze Schreie aus, dass sie schon Angst bekam, er würde Plünderer auf sie aufmerksam machen. Sie versuchte, beruhigend auf ihn einzureden, und als das nichts half, begann sie eine Melodie zu summen, die er immer gemocht hatte. Tatsächlich verstummte er bald, aber sie nahm an, dass er vor Schmerz bewusstlos geworden war. Sie biss die Zähne zusammen und schleppte ihn aus dem Haus. Erst draußen erinnerte sie sich an ihren Onkel und dessen Familie.
Sie hatte weder Esra ben Nachum noch
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