Gebrochen
Prolog
Leon lief gut gelaunt den kurzen Weg vom Gartentor zur Haustüre. Er würde sich nachher mit seinen Freunden auf der Straße treffen. Doch zuvor wollte er etwas essen und seine Schultasche in sein Zimmer bringen. Seine Mutter erwartete ihn bereits am gedeckten Tisch. Schnell wusch er sich die Hände und setzte sich. Sie schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln, bevor sie wieder trübsinnig dreinsah. Leon ignorierte das, so sah sie immer aus, seit seine Oma vor zwei Jahren gestorben war. Er selbst war auch ziemlich traurig gewesen, immerhin war sie immer da gewesen, doch mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, dass sie weg war. Er schlang sein Essen in Rekordzeit hinunter und verschwand dann in seinem Zimmer. Er musste immer alles für die Schule erledigen, bevor er hinaus durfte. Sein Vater war da sehr streng. Er konnte es gar nicht leiden, wenn Leon sich nicht bemühte. Schnell hatte Leon gelernt, dass es besser war, sich gleich anzustrengen und seinem Vater, oder auch seiner Mutter, keinen Grund zu liefern, unzufrieden zu sein. Sobald er alles sorgfältig erledigt und seine Sachen für den nächsten Tag hergerichtet hatte, lief er nach draußen. Seine Freunde waren schon fast alle da und kickten ihm gleich den Ball zu.
Um Autos mussten sie sich nicht sorgen. Hier war kaum Verkehr. Früher war das sicher anders gewesen. Das Viertel hier wurde von kleinen Einfamilienhäusern geprägt, die früher bestimmt vor Leben übergequollen waren. Es handelte sich nicht um so protzige Dinger, wie man sie am Rande der Stadt neu gebaut sehen konnte, sondern kleine Häuschen. Die meisten hatten nur das Erdgeschoss und einen Keller, mit einem kleinen Garten drum herum. Mittlerweile sah man allen das Alter an, deutliche Zeichen der Verwahrlosung waren der abblätternde Putz und die zerbrochenen Fensterschreiben. Manche Fenster waren auch mit Brettern zugenagelt, die Vorgärten zum größten Teil verwachsen. Mindestens jedes zweite Haus stand leer.
Leon störte es nicht, in so einer heruntergekommenen Gegend zu wohnen. Hier konnte man auf der Straße spielen. Die Gärten boten den perfekten Dschungel, in dem der Fantasie keine Grenzen gesetzt war. Sogar die alten Häuser wurden in ihre Spiele mit einbezogen. Denn wenn niemand darin wohnte, beschwerte sich auch keiner, wenn sie ihre Kommandozentrale in einem davon aufbauten. Da nahm Leon gerne in Kauf, dass er nicht immer ganz neue Sachen hatte und somit nicht so gepflegt wie seine Mitschüler aussah. Denn diese „geschniegelten Affen“, wie sein Vater sie oft bezeichnete, hatten nicht so ein Spielparadies zur Verfügung.
Leon hatte den ganzen Nachmittag draußen verbracht. Nun musste er sich beeilen nach Hause zu kommen. Wenn er nicht pünktlich war, wurde sein Vater böse. Etwas, das er nicht riskieren wollte. Doch schon als er das Wohnzimmer betrat, wusste er, dass er etwas angestellt hatte. Dazu musste er nur einen Blick in das erboste Gesicht seines Vaters werfen. Auch seine Mutter blickte ihn tadelnd an. Leon senkte den Kopf und wartete auf die Erklärung. Die bekam er immer. Diesmal waren es drei Rechtschreib- und zwei Rechenfehler bei der Hausaufgabe. Leon nickte nur.
Sein Vater stand auf und schickte ihn in sein Zimmer, wohin er ihm folgte. Mit Argusaugen überwachte sein Vater ihn, als er die Fehler korrigierte und danach seine Sachen wieder einpackte. Dann zog Leon sich aus, um den Schlafanzug anzuziehen. Er wusste, dass er ohne Essen sofort ins Bett gehen musste. Er wusste auch, dass er einen – mindestens einen – schmerzhaften Hieb auf seinen nackten Hintern bekommen würde. Tapfer biss er die Zähne zusammen, als es so weit war. Mit Tränen in den Augen wartete er, bis sein Vater sein Zimmer verließ, erst dann zog er sich an und legte sich mit brennendem Hintern und knurrendem Magen ins Bett.
Er musste seine Hausaufgaben sorgfältiger machen.
Seine Eltern waren zwar streng, doch Leon sah das ein. Sie wollten nur das Beste für ihn. Da gehörte es eben dazu, dass sie ihm zeigten, wo es lang ging. Wenn er sie enttäuschte, musste er die Konsequenzen tragen. Das war schon in Ordnung. Er musste sich eben anstrengen, damit er keine Fehler machte. Aber so ging es schließlich allen Kindern, bis sie soweit waren, sich alleine im Leben durchkämpfen zu können. Dass das Leben nicht leicht war, wusste Leon von den Gesprächen seines Vaters mit seinen Freunden. Fast jedes Wochenende waren sie bei ihm. Leon war dann natürlich in seinem Zimmer und verhielt
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