Die Goldhaendlerin
Mutter erlaubten weder ihr noch ihrer Schwester, das Kellerloch zu verlassen, nicht einmal in tiefster Nacht. Da man ihnen auch keine Kerze mehr gab, waren sie gezwungen, alle Verrichtungen im Dunkeln oder im Schein eines schnell abbrennenden Kienspans zu erledigen, was Rachel immer wieder zu hysterischen Ausbrüchen veranlasste.
Leas einziger Lichtblick war Gretchen, die die Geschwister mit rührendem Eifer versorgte und dafür die Beschimpfungen ihrer Schwiegermutter in Kauf nahm. Ohne sie hätte Elieser den ersten Tag nicht überstanden, und Lea war fest davon überzeugt, dass sie selbst ohne den Zuspruch der Freundin längst wahnsinnig geworden wäre.
Gretchen dachte einfach an alles. Da sie wusste, dass die unfreiwilligen Gäste nach Regeln und Gesetzen leben mussten, die einem Christenmenschen fremdartig vorkamen, reichte sie ihnen gekochtes Gemüse und frisches Obst. Einmal schlachtete sie sogar gegen den wütenden Protest ihrer Schwiegermutter ein Huhn, um eine stärkende Brühe für Elieser zuzubereiten. Unermüdlich brachte sie Essen und Trinken herbei, leerte den Eimer, in den Lea und Rachel ihre Notdurft verrichteten, säuberte die Schale, die Lea ihrem Bruder unterschob, und berichtete ihnen alles, was in der Stadt vorging.
Alban von Rittlage hatte das Judenviertel gleich am nächsten Tag von seinen Soldaten besetzen lassen und einen Boten mit der Nachricht von dem Pogrom an die kaiserliche Verwaltung geschickt. Darin hatte er den Überfall als den Ausbruch momentaner Empörung der Sarninger Bürger wegen eines jüdischen Hostienfrevels dargestellt und gebeten, eine Rückkehr der Juden vorerst unterbinden zu dürfen, da der Zorn der braven Christenmenschen noch nicht verraucht sei. Gretchens Mann, der dem Vogt als Schreiber diente, hatte den Bericht selbst zu Papier gebracht.
Gretchen erzählte ihnen auch, dass es mehr Tote gegeben hatte als die, die Lea im Haus ihres Onkels gefunden hatte. Bruno, der Bader, und mehrere seiner Spießgesellen hatten die aus der Stadt fliehenden Juden verfolgt, und die, die sie zu fassen bekamen, in die Sarn geworfen und mit Stangen unter Wasser gedrückt, bis sie ertrunken waren. Andere hatten Frauen und Mädchen abgefangen, von denen zwei jünger gewesen waren als Rachel, und ihnen auf offenem Feld Gewalt angetan.
Lea musste an Mirjam und Noomi denken und hoffte, dass die beiden hatten entkommen können. Da sie selbst trotz ihrer sechzehn Jahre kaum weibliche Formen besaß und so schnell laufen konnte wie ein Junge, war sie fest davon überzeugt, dass sie einer Vergewaltigung hätte entgehen können. Die schöne Rachel mit ihren gezierten, bedächtigen Bewegungen wäre jedoch eine leichte Beute für die entfesselte Meute gewesen. Noch während Gretchens Bericht drückte Lea ihre Schwester an sich und dankte Gott für die Gnade, die er ihnen beiden hatte angedeihen lassen. Sie und Rachel würden Gretchen, deren Freundschaft selbst einer so feindseligen Umgebung wie dieser standhielt, ihr Leben lang dankbar sein.
Am Abend das fünften Tages, als Lea schon zu glauben begann, sie müsse den Rest ihres Lebens in ewiger Düsternis verbringen, kam Gretchen ganz aufgeregt in den Keller. »Peter sagt, ihr müsst morgen früh von hier fort. In der Stadt gehen Gerüchte um, einige Bürger hielten Juden versteckt, und man hat schon mehrere Häuser durchsucht, darunter das der Witwe Hauser, der man schon lange ein ungehöriges Verhältnis mit einem Juden nachgesagt hat. Tatsächlich hat man den Mann in ihrem Keller gefunden und erschlagen. Sie selbst ist auf den Marktplatz gezerrt, dort kahl geschoren und ausgepeitscht worden, und dann hat man sie nackt und blutend aus der Stadt gejagt.
Jetzt hat Peter Angst, uns könne es ebenso ergehen.«
Lea hob die Laterne, die Gretchen mitgebracht hatte, wies auf ihren Bruder, dessen Gesicht mehr einem Totenschädel als einem menschlichen Antlitz glich, und schüttelte den Kopf.
»Ich würde lieber heute als morgen aus diesem Loch herauskommen, aber Elieser ist nicht in der Lage zu reisen.«
Gretchen spreizte abwehrend die Hände. »Ihr müsst aber von hier verschwinden. Wenn ihr bleibt, werden wir alle sterben.«
Lea spürte, wie die Angst ihrer Freundin auf sie übersprang, und zuckte zusammen wie unter einem Schlag. »Rachel und ich können Elieser doch nicht bis Hartenburg tragen. Wir können von Glück sagen, wenn wir ungeschoren bis zum Stadttor kommen, aber spätestens dort werden uns die Wachen festnehmen und den Männern des
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