Die Gottessucherin
tränennassen Augen zu ihrer Schwester auf. »Was sagst du da?«
35
Ein Tross von drei Fuhrwerken, beladen mit Kisten und Truhen voller Edelsteine, passierte an einem sonnigen Herbsttag das südliche Stadttor von Antwerpen. Auf dem ersten Wagen war ein geräumiger, möblierter Verschlag eingerichtet, der über alle Annehmlichkeiten einer komfortablen Schiffskajüte verfügte, mit gepolsterten Sesseln sowie einem Tisch und einem Bett. Darin hatte es sich Brianda mit ihrer Tochter bequem gemacht, um, eskortiert von schwerbewaffneten Reitern, nach Aachen zu reisen. Sie trug den Reisepass der Regentin bei sich und einen Geleitbrief des Papstes, der ihr die Durchreise der nördlichen Provinzen des Vatikanstaats erlaubte, von wo aus sie zu ihrem eigentlichen Ziel Venedigzu gelangen hoffte. Auf einem Rapphengst begleitete Diogo den Tross seiner Frau zur Stadt hinaus, allerdings nur bis Holsbeek, einer kleinen Ortschaft im Norden von Brüssel, wo José Nasi auf ihn wartete.
Von alledem hatte Reyna nicht die leiseste Ahnung. Sie stand im Bann eines ganz anderen Ereignisses.
Kaiser Karl war in den Niederlanden eingetroffen, und in wenigen Tagen würde die Jagdgesellschaft im Heerenhuys von Boendal mit einer Hubertusmesse und einem Ball eröffnet werden, in dessen Verlauf sie dem Herrscher des Römischen Reiches als künftige Ehrendame seiner Schwester und Braut seines Generalkommissars für Converso-Angelegenheiten vorgestellt werden sollte.
Seit Wochen wurde Reyna von allen möglichen Hofdamen und Kammerherren auf die komplizierten Zeremonien vorbereitet. Die Aufgaben einer Ehrendame erschöpften sich nicht in ein paar Handreichungen beim An- und Auskleiden der Regentin, es gehörten auch so bedeutungsvolle Dienste wie die Vorbereitung von Privataudienzen oder die Entgegennahme von Bittschriften, die Bedienung vornehmer Gäste an der Tafel oder die Teilnahme an höfischen Gesellschaftsspielen dazu. Doch so kompliziert die Vorschriften und Regeln auch sein mochten, die es zu beachten galt - vor nichts fürchtete Reyna sich so sehr wie vor dem Augenblick, da sie in einem Hofknicks vor dem Kaiser niedersinken würde, vor Karl V, dem mächtigsten Mann der Welt. Als der Tag schließlich kam, an dem sie nach Boendal aufbrechen sollte, war sie deshalb so aufgeregt, dass sie keinen Bissen zu sich nehmen konnte. Ein Offizier des Kaisers würde sie zusammen mit Senhor Aragon zum Heerenhuys geleiten - die Regentin richtete die Jagdgesellschaft für ihren Bruder zwar aus, doch selbst nahm sie an einem derart weltlichen Vergnügen nicht teil.
Noch vor Morgengrauen war Reyna aufgestanden, um sich für das große Ereignis herauszuputzen. Senhor Aragon hatte ihr geraten, statt der schwarzen, strengen Gewänder, die sie am Hof der Regentin tragen musste, die bunten, mit Schellen besetzten Kleider anzuziehen, die Tante Brianda ihr geschenkt hatte. Angeblich duldete der Kaiser zwar am Körper seiner Schwester nur schwarze Kleider - am Anblick anderer Frauen wollte er sich erfreuen.
Was der Kaiser wohl für ein Mann war? Während Reyna vor dem Spiegel verschiedene Hauben ausprobierte, versuchte sie, sich den Herrscher vorzustellen. Senhor Aragon hatte gesagt, Karl würde alle Sprachen sprechen, die es in seinem Reich gab, doch jede Sprache würde er zu einem anderen Zweck benutzen. Zu Gott in der Kirche spreche er spanisch, mit Gesandten am Hof französisch, mit seinen Pferden im Stall deutsch - und mit seinen Mätressen im Bett italienisch. Der Gedanke, dass der Kaiser Frauen zu sich ins Bett nahm, verwirrte Reyna. Ob er ihnen beim Küssen wohl die Zunge genauso tief in den Mund steckte, wie Senhor Aragon das bei ihr tat? Ihr Bräutigam hatte eine so lange Zunge, dass sie manchmal glaubte, daran zu ersticken, und sosehr sie die Verehrung dieses herrlichen Mannes genoss, so sehr widerstrebten ihr seine Küsse. Sie flößten ihr Ekel ein - Ekel und Angst.
»Das putzt ungemein.«
Reyna war so sehr mit sich beschäftigt gewesen, dass sie Aragons Kommen gar nicht bemerkt hatte. »Ist es schon so weit?«
»Ja, Ihr solltet Euch beeilen.« Er reichte ihr eine goldene Haube mit roten Bändern. »Wenn Ihr meinen Rat möchtet - nehmt die.« »Ich bin so froh, dass Ihr da seid«, sagte Reyna, während sie die Haube aufsetzte. »Ohne Euch würde ich mich nie im Leben trauen, dem Kaiser ...« Als sie Aragon hinter sich im Spiegel sah, stutzte sie. »Aber warum macht Ihr denn so ein Gesicht?« »Ich muss Euch etwas gestehen«, sagte er und
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