Die Gottessucherin
vielstimmiges Glockengeläut wie ein freundlicher Morgengruß zum Hafen herüberwehte.
»Hast du schon mal eine so schöne Stadt gesehen?«, fragte Samuel, der mit seinem Bruder an einem Bullauge der Esmeralda hockte, um das erwachende Antwerpen in der Morgensonne zu betrachten. »Der Turm der Kathedrale ist vierhundert Fuß hoch - der höchste Turm in ganz Flandern!«
»Und das große Backsteingebäude, was ist das für ein Haus?«, wollte Benjamin wissen.
»Mit den weißen und roten Streifen? Das ist die Fleischhalle, das Innungshaus der Schlachter und Metzger.«
»Das sieht ja aus, als hätte man Fleisch und Speck übereinander-
geschichtet.«
Samuel schaute seinen Bruder an, der mit großen Augen die Fleischhalle bestaunte. Sein dunkles Kraushaar war so lang, dass die ersten Locken ihm schon auf die Schultern fielen, und auf seiner Nase blühten die herrlichsten Eiterpickel. Hatte Gott oder hatte der Apotheker Benjamin gerettet? Samuel wusste es nicht. Er wusste nur: Sein Bruder hatte sich für den steinigen Pfad entschieden, und Eliahu Sorares hatte alles getan, um ihm den Weg zurück ins Leben zu ebnen. »Damit die anderen wissen, dass ich kein Mörder bin«, hatte der Apotheker gesagt als Antwort auf Samuels Frage, warum er ihm geholfen habe. »Und das Haus mit dem goldenen Pferd auf dem Dach?«, fragte Benjamin. »Wem gehört das?«
»Das gehört Diogo Mendes«, erwiderte Samuel so stolz, als wäre er selbst der Besitzer. »Es ist fünf Stockwerke hoch und steht direkt gegenüber vom Rathaus. Kein Wunder, Diogo Mendes ist ja auch der reichste Kaufmann von Antwerpen. Ein Jude wie wir. Ihm verdanken Tausende von uns ihr Leben, ihm und seiner Schwägerin, Dona Gracia.« »Ist das die Frau, von der alle hier reden?«
»Nicht nur hier - die Juden in ganz Europa verehren sie! Irgendwann werde ich aufschreiben, was sie für unser Volk getan hat, damit alle Welt davon erfährt. - Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?« Als Benjamin nickte, rückte Samuel näher zu ihm heran, und so leise, dass niemand es hören konnte, flüsterte er ihm ins Ohr: »Der Kapitän hat mir verraten, dass Dona Gracia ein Schiff nach Lissabon geschickt hat, die Felicidade, mit einem Brief an den König. Nur wegen uns! Und sobald der König antwortet, sind wir frei und können an Land.« »Glaubst du, Dona Gracia kann mir helfen, Arbeit zu finden?«, fragte Benjamin. »Ich habe doch nichts anderes gelernt, als Hüte zu machen.«
»Hab keine Angst, Dona Gracia wird für dich sorgen, genauso wie sie für mich und alle anderen Juden in Antwerpen sorgt. Außerdem brauchen die Leute hier schließlich auch Hüte. - Aber um Himmels willen, was hast du? Was ziehst du denn für ein Gesicht?«
Benjamin sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Sein Unterkiefer bebte, und seine Stimme fiepste, als wäre er schon im schlimmsten Stimmbruch.
»Es ... es ist ja nur, weil ich so glücklich bin«, sagte er, und obwohl er vor Verlegenheit ganz rot im Gesicht war, griff er nach Samuels Hand. »Danke, dass du mich hierhergebracht hast.« Samuel musste schlucken, um nicht selbst loszuheulen, während er den Händedruck erwiderte, und ohne darauf zu achten, ob jemand sie sah oder nicht, gab er seinem Bruder einen Kuss. »Was meinst du, wie froh ich erst bin«, sagte er. »Ich habe dich so sehr vermisst.« Er legte seinen Arm um den kleinen Bruder, und während er ihn an sich drückte und sie zusammen auf den Kai schauten, wo die Soldaten des Hafenregiments gerade angetreten waren und vor ihrem Kommandanten salutierten, fügte er hinzu: »Glaub mir, jetzt wird alles gut. Jetzt fängt ein neues Leben für uns an.«
34
Fünf Wochen waren vergangen, seit die Felicidade nach Lissabon ausgelaufen war, und noch immer war sie nicht zurück. Hatte der Herr Gracias Gebete erhört? Bei günstiger Brise dauerte die Fahrt nur zehn Tage, bei schlechtem Wind dagegen konnte sie sich über einen Monat lang hinziehen. Jeder Tag, den sie gewannen, war ein Geschenk des Himmels. Sie brauchten Zeit - alles, was jetzt getan wurde, musste mit Bedacht getan werden. Die größte Gefahr ging von Aragon aus. Sobald er vom Scheitern seiner Pläne erführe, wäre mit wütenden Vergeltungsmaßnahmen zu rechnen. Reyna könnte darum nur befreit werden, wenn alle Mitglieder der Familie bereits außer Landes wären - vor läufig oder für immer, das stand noch dahin. Tausend Dinge mussten erledigt werden, um sowohl die Entführung als auch die Flucht
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