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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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gestanden hätte, nicht leben können. Ihre Porträts habe ich alle zerstört, auch das letzte und kleinste. Eines Tages habe ich diese lügnerischen Fotografien, auf denen ihr helles Lächeln erstrahlte, ins Feuer geworfen. Ich wusste, dass sie meinen Schmerz nur verstärkten. Aber vielleicht hatte Destinat das große Bild gar nicht mehr wahrgenommen, vielleicht war es ja zu einem beliebigen Gemälde geworden und nicht mehr das Bildnis jener Frau, die er geliebt und verloren hatte? Möglicherweise war es zu dieser musealen Entseelung gekommen, die bewirkt, dass man nicht gerührt ist, wenn man die Gestalt unter dem Firnis betrachtet, weil man annimmt, dass sie nie gelebt, geatmet, geschlafen, geschwitzt und gelitten hat wie wir? Halb heruntergelassene Jalousien tauchten die Zimmer in ein angenehmes Dämmerlicht. Alles war in Ordnung, tadellos aufgeräumt, wie in Erwartung eines in die Sommerfrische abgereisten Eigentümers, der von einem Tag auf den anderen zurückkommen konnte. Das Seltsamste war: Kein Geruch lag in der Luft. Erst ein Haus ohne Ge
    rüche ist wirklich ein totes Haus.
    Lange habe ich diese eigenartige Reise fortgesetzt, ein schamloser Eindringling, der aber, ohne es zu merken, einem gut markierten Weg folgte. Das Schloss verwandelte sich in eine Muschel, deren Windungen ich langsam nachging, auf ihr Zentrum zu. Ich passierte Küche, Kammern, Waschküche, Salon, Ess- und Raucherzimmer und kam schließlich zur Bibliothek, deren Wände vollständig mit Büchern bedeckt waren. Sie war nicht groß: Es gab einen Schreibtisch, auf dem sich Schreibutensilien, eine antike Leseleuchte, ein einfaches Papiermesser und eine Schreibunterlage aus schwarzem Leder befanden. Zu beiden Seiten des Schreibtisches standen zwei ausladende, tiefe Sessel mit nach vorn ansteigenden Armlehnen. Der eine war so gut wie neu, der andere bewahrte den Abdruck eines Körpers: Sein Leder war rissig und glänzte stellenweise. Ich habe mich in den neuen gesetzt. Man saß bequem darin. Die Sessel standen einander gegenüber. Vor mir also der, in dem Destinat manche Stunde mit Lesen verbracht hatte oder damit, an nichts zu denken.
    Die an den Wänden wie Soldaten einer Papierarmee aufgestellten Bücher schluckten alle Geräusche von draußen. Man hörte nichts, weder den Wind noch das Dröhnen der nahe gelegenen Fabrik oder den Gesang der Vögel im Park. Auf der Armlehne von Destinats Sessel lag, mit dem Rücken nach oben, ein aufgeschlagenes Buch. Es war sehr alt, mit abgenutzten, eselsohrigen Seiten, ein Exemplar von Pascals Pensees, in dem seine Finger wahrscheinlich ein Leben lang geblättert hatten. Es liegt jetzt neben mir. Ich habe es mitgenommen. Es ist an derselben Seite aufgeschlagen, an der ich es geöffnet vorfand. Und auf dieser Seite voll religiösem Abrakadabra und verworrenen Gedanken stehen zwei von Destinats Hand mit Bleistift unterstrichene Sätze, zwei Sätze, die ich auswendig weiß: Der letzte Akt ist blutig, wie schön auch die Komödie in allen übrigen Teilen ist: Man wirft zuletzt Erde auf das Haupt – und damit ist es für immer zu Ende.

    Es gibt Worte, bei denen es einem kalt den Rücken herunterläuft. Diese zum Beispiel. Ich kenne Pascals Leben nicht, und im übrigen kann er mich gern haben, aber eins ist sicher: Ihm hat die Komödie, von der er da spricht, nicht übermäßig gefallen. Mir auch nicht, und Destinat wahrscheinlich ebenso wenig. Pascal muss sein Kreuz zu tragen gehabt und geliebte Gesichter allzu früh verloren haben, sonst hätte er nie so etwas schreiben können. Wer von Blumen umgeben lebt, denkt nicht an den Schmutz.
    Mit dem Buch in der Hand bin ich von Zimmer zu Zimmer gegangen. Im Grunde ähnelten sich alle. Es waren nackte Zimmer. Damit will ich sagen, man spürte, dass in ihnen keine Erinnerung, keine Vergangenheit, kein Nachklang zurückgeblieben war. In ihnen wohnte die Traurigkeit von nie benutzten Gegenständen. Ein wenig Gedränge hatte ihnen gefehlt, ein paar Schrammen, menschlicher Atem gegen die Fensterscheiben, das Gewicht müder Körper in den Himmelbetten, auf dem Teppich herumliegendes Kinderspielzeug, Hämmern gegen Türen, im Parkett versickerte Tränen.
    Am Ende eines Flurs befand sich Destinats Schlafzimmer, etwas abseits und zurückgesetzt von den anderen. Die Tür war höher und schmuckloser und in einer sonderbaren Farbe gestrichen, die ins Granatrot spielte. Ich habe sofort erkannt, dass es sein Zimmer war. Nur hier konnte es liegen, am Ende dieses Flurs, der

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