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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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mir reden und mich ja nicht zum Sprechen veranlassen. So blieben wir eine Weile mehr oder weniger zusammen und schauten abwechselnd stumm die Bonbons, die Zimmerdecke oder das Fenster an, durch das man nichts sehen konnte außer einem Stück Himmel, keinen Baum, keinen Hügel, keine Wolken.
    Dann erhob sich der Bürgermeister, drückte mir abermals lange die Hand und ging. An diesem Tag sagte er mir noch nichts von Destinats Tod. Davon erfuhr ich erst etwas später, durch Pater Lurant, der mich ebenfalls besuchte.
    Es war am Tag nach meinem Unfall geschehen. Er war auf die einfachste Art der Welt gestorben, zu Hause, ohne Aufsehen und Geschrei, an einem schönen rotgoldenen, noch durch die Erinnerung an den Sommer eingefärbten Herbsttag.
    Wie jeden Nachmittag war er nach draußen gegangen, um seinen Spaziergang im Schlosspark zu machen, hatte sich am Ende wie sonst auch auf die Bank gesetzt, von der aus man die Guerlante übersah, und beide Hände auf seinen Stock gelegt. Gewöhnlich blieb er eine knappe Stunde so sitzen und kam dann wieder ins Haus. Weil Barbe ihn diesmal nicht zurückkommen sah, ging sie in den Park hinaus, sah ihn, von weitem und von hinten, immer noch auf der Bank sitzen, war beruhigt und kehrte in die Küche zurück, wo sie gerade einen Kalbsbraten vorbereitete. Aber sobald der Braten zugerichtet und das Gemüse für die Suppe geputzt, geschnitten und in den Topf geworfen war, fiel ihr ein, dass sie noch immer nicht den Schritt des Staatsanwalts gehört hatte. Sie ging erneut hinaus, sah ihn abermals auf der Bank sitzen, gleichgültig gegen den Nebel, der aus dem Fluss aufstieg, und gegen die Nacht, die nach und nach alle Bäume des Parks umfing. Da entschloss sich Barbe, zu ihrem Herrn hinüberzugehen, um ihm zu sagen, das Abendessen sei bald fertig. Sie ging durch den Park, rief, erhielt aber keine Antwort. Als sie dann dicht bei ihm war, nur wenige Meter noch entfernt, hatte sie eine Vorahnung. Sie ging langsamer um die Bank herum und sah Destinat, mit aufrechtem Oberkörper und weit geöffneten Augen, die Hände über den Knauf des Stocks gelegt. Er war mausetot.
    Es heißt, das Leben sei ungerecht, aber der Tod ist es noch viel mehr, jedenfalls das Sterben. Manche müssen lange leiden, andere verscheiden mit einem Seufzer. Die Gerechtigkeit ist nicht von dieser Welt, aber auch nicht von der anderen. Destinat war ohne Lärm, ohne Schmerz, ohne Vorankündigung verschieden. Er war so einsam gestorben, wie er gelebt hatte.
    Pater Lurant erzählte mir, es habe ein Staatsbegräbnis gegeben mit allem, was die Gegend an einflussreichen und wohlhabenden Leuten aufzubieten hatte. Die Männer erschienen im schwarzen Anzug, die Frauen in dunklen Farben, die Gesichter hinter grauen Schleiern verborgen. Der Bischof, der Präfekt und ein stellvertretender Staatssekretär waren angereist. Der ganze Trauerzug begab sich zum Friedhof, wo Destinats Nachfolger eine Rede hielt. Dann kam Ostranes Auftritt. Wie es sich gehört. Mit seiner Schaufel und seinem umständlichen Gehabe.
    Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, suchte ich, bevor ich noch nach Hause ging, als Erstes den Friedhof auf und besuchte Clémence. Ich ging sehr langsam, mit einer Steifigkeit im linken Bein, die ich nie mehr losgeworden bin und durch die ich wirke wie ein Kriegsveteran, ausgerechnet ich, der in keinem Krieg gekämpft hat.
    Ich habe mich auf Clémences Grab gesetzt und ihr von meinem Unfall erzählt, von meiner Angst, ihr Kummer zu bereiten, meinem langen, süßen Schlaf, meinem enttäuschenden Erwachen. Ich habe den Marmor gereinigt, den Klee ausgerissen, der entlang der Platte wuchs, und mit dem Handballen die Flechten abgerieben, die das Kreuz hatten aufquellen lassen. Dann habe ich einen Kuss in ihre Richtung geworfen, in eine Luft, die nach Humus und feuchtem Gras duftete. Destinats Grab verschwand ganz unter Blumen und Kränzen. Einige verstreuten schon verfärbte Blütenblätter auf dem umliegenden Kies, andere leuchteten noch und fingen manchmal einen Sonnenstrahl ein, der sie einen Augenblick lang wie Diamanten glitzern ließ. Daneben gab es zusammengefallene Sträuße, Schärpen, verzierte Plaketten, Visitenkarten in ungeöffneten Umschlägen. Ich sagte mir, dass er es geschafft hatte, weil er endlich an der Seite seiner Frau ruhte. Er hatte sich Zeit gelassen. Ein ganzes Leben lang. Ich dachte an seine hoch gewachsene Gestalt, an sein Schweigen, sein Geheimnis, diese Mischung aus Strenge und Distanz, die seiner

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