Die grauen Seelen
und sagte: , er lächelte, hat aber nichts geantwortet. Dann ist er gegangen.»
Schreiben ist schmerzhaft. Das merke ich seit Monaten, seit ich damit begonnen habe. Hand und Seele tun einem weh davon. Der Mensch ist nicht für diese Arbeit gemacht, und wozu soll sie gut sein? Was nützt sie mir? Wäre Clémence bei mir geblieben, dann hätte ich diese vielen Seiten nie voll gekritzelt, trotz des geheimnisvollen Todes von Belle de Jour, trotz des Todes des kleinen Bretonen, der als Schandfleck auf meinem Gewissen lastet. Ja, allein ihre Gegenwart hätte gereicht, mich von der vergangenen Zeit loszulösen und zu stärken. Im Grunde schreibe ich also nur für sie, ich tue so, als ob, führe mich selbst hinters Licht, um mich davon zu überzeugen, dass sie auf mich wartet, wo auch immer sie sein mag. Und dass sie alles hört, was ich ihr zu sagen habe.
Schreiben lässt mich zu zweit weiterleben. Wenn man lange allein lebt, kann man sich auch dazu entschließen, laut mit den Dingen und Wänden zu sprechen. Was ich tue, unterscheidet sich kaum davon. Ich habe mich oft gefragt, welche Wahl der Staatsanwalt wohl getroffen hat. Wie verbrachte er seine Stunden, wem widmete er seine Gedankenspiele, seine Selbstgespräche? Ein Witwer versteht den anderen, das jedenfalls ist mein Eindruck. Es gab vieles, was uns einander hätte näher bringen können. XII
Als ich am 27. September 1921 die Rue des Pressoirs überquerte, fuhr mich ein Automobil, das ich nicht kommen gesehen hatte, über den Haufen. Meine Stirn schlug auf die Bordsteinkante. Ich erinnere mich, dass ich im Augenblick des Schocks an Clémence dachte, und ich erinnere mich außerdem, dass ich an sie dachte wie an eine lebendige Frau, der man binnen kurzem mitteilen würde, ihr Gatte habe einen Unfall gehabt. Ich erinnere mich auch, dass ich in diesem Bruchteil einer Sekunde auf mich selber böse war, weil ich so zerstreut gewesen war und ihr durch eigene Schuld Kummer bereitet hatte. Dann wurde ich ohnmächtig und empfand so etwas wie Glück, als würde ich in ein sanftes, stilles Land hinübergezogen. Als ich später im Krankenhaus aufwachte, sagte man mir, ich hätte sieben volle Tage lang in diesem seltsamen Schlaf gelegen, sieben Tage außerhalb meines Lebens sozusagen, sieben Tage, an die ich keinerlei Erinnerung habe, abgesehen von einem Gefühl von Schwärze und wattiger Dunkelheit. Die Ärzte im Krankenhaus glaubten übrigens, ich würde nie mehr erwachen. Sie irrten sich. Ich hatte kein Glück. «Sie waren nur um Haaresbreite vom Tod entfernt!», sagte einer zu mir, der sich freute, als er mein Erwachen bemerkte. Er war ein lustiger junger Kerl mit schönen kastanienbraunen Augen. Er hatte noch alle Illusionen, die man in seinem Alter haben kann. Ich habe ihm nicht geantwortet. Die Frau, die ich geliebt habe und noch immer liebe, habe ich in dieser langen Nacht nicht wieder gesehen. Ich habe sie weder gehört noch gespürt; der Arzt musste sich also täuschen: Ich muss noch weit vom Tod entfernt gewesen sein, da mir ja nichts ihre
Gegenwart angekündigt hatte.
Man hat mich noch zwei Wochen dort behalten. Ich war von einer seltsamen Schwäche befallen. Ich kannte keine der Krankenschwestern, die sich um mich kümmerten, aber sie schienen mich zu kennen. Sie brachten mir Suppen, Kräutertee, gekochtes Fleisch. Ich sah mich nach Madame de Flers um. Ich fragte sogar eine von ihnen, ob sie noch da sei. Die Krankenschwester lächelte mich an, ohne mir zu antworten. Sie musste annehmen, ich rede im Delirium.
Als der Arzt der Meinung war, ich könne wieder sprechen, ohne mich zu sehr zu verausgaben, bekam ich Besuch vom Bürgermeister. Er drückte mir die Hand. Sagte, da sei ich ja nochmal mit dem Schrecken davongekommen. Er habe sich Sorgen gemacht. Dann kramte er in seinen Taschen und zog eine Packung klebriger Bonbons heraus, die er eigens für mich gekauft hatte. Er legte sie leicht verschämt auf den Nachttisch und sagte wie zur Entschuldigung:
«Ich wollte Ihnen eigentlich eine gute Flasche mitbringen, aber hier im Krankenhaus ist Wein verboten, also habe ich gedacht ... Sehen Sie, die Konditorei füllt die Dinger mit Mirabellengeist!»
Er lachte. Ich lachte mit, um ihm eine Freude zu machen. Ich wollte sprechen, ihm Fragen stellen, aber er legte den Finger auf den Mund, als wollte er sagen, dafür sei noch Zeit. Die Krankenschwestern hatten ihm gesagt, man müsse vorsichtig mit mir umgehen, nicht zu viel mit
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