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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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Verwandten, der noch nicht eingezogen war.
    Schließlich kamen sie in einen kleinen, aber hübsch dekorierten Hof, den das Plätschern eines Springbrunnens erfüllte. Auf der einen Seite, wo die Steinplatten einem kleinen Garten mit Wegen aus hellem Sand Platz machten, saß ein muskulöser, sonnengebräunter junger Mann auf Kissenbergen unter einem Baldachin, der für zwölf Gäste ausgereicht hätte. Als wäre er der Bräutigam zu Qinnitans bräutlicher Erscheinung, trug er ein wallendes weißes Gewand. Als sie näher kamen, stand er auf, zögerte kurz zwischen Qinnitan und Luian, zwischen formaler Stellung und realer Macht, und fiel dann vor dem Mädchen aufs Knie.
    »Herrin. Sehr freundlich, daß Ihr gekommen seid.« Er erhob sich und wandte sich an Luian. »Hochgeachtete Cousine, Ihr erweist mir eine Ehre.«
    Luian zog einen Fächer aus dem Ärmel und ließ ihn aufklappen wie ein Adler, der seine Schwingen entfaltet. »Immer ein Vergnügen, Hauptmann.«
    Jeddin bedeutete seinen Besucherinnen, sich zu ihm unter den Baldachin zu setzen, und schickte dann seinen Diener nach Erfrischungen. Nachdem er mit Luian ein paar geziemende Worte über ihre Gesundheit und die verschiedener wichtiger Bewohnerinnen des Frauenpalasts gewechselt hatte, wandte er sich an Qinnitan.
    »Luian sagt, Ihr erinnert Euch jetzt wieder an mich.«
    Qinnitan errötete, weil sie sich hauptsächlich daran erinnerte, wie er von den größeren Jungen gedemütigt worden war. Jetzt, da sie ihn vor sich hatte, war das noch schwerer mit der Gegenwart übereinzubringen. Die Muskeln des Leopardenhauptmanns bewegten sich unter der dunklen Haut wie die des echten Leoparden, den sie einst in einem Käfig auf dem Platz der wandernden Sonne gesehen hatte, des furchterregendsten Tiers, dem sie je begegnet war. Doch trotz seiner geballten Kraft, trotz seiner schrecklichen Zähne und Klauen war ihr der Leopard traurig erschienen und gar nicht ganz anwesend, so als sähe er nicht die Menschenmenge um sich herum, sondern das schattengesprenkelte Buschland, wo er einst umhergestreift war — als ob er diese Landschaft sähe, aber wüßte, daß er sie nicht erreichen konnte.
    Komischerweise meinte sie, etwas Ähnliches auch in Jeddins Augen zu sehen, aber ihr war klar, daß es wohl einfach nur romantische Phantasien waren, die sie diesen gutaussehenden jungen Mann mit der gefangenen Bestie vermengen ließen. »Ja. Ja, Hauptmann, ich erinnere mich an Euch. Ihr kanntet meine Brüder.«
    »Das ist richtig.« Wie ein bedeutender Mann, den man gebeten hatte, sich an die entscheidenden Momente seines Werdegangs zurückzuerinnern, verbreitete sich Jeddin ausführlich über die Zeiten in der Katzenaugenstraße und schilderte die Abenteuer einer Horde junger Tunichtgute — unter denen er, wie er gestehen müsse, nicht der harmloseste gewesen sei. Wenn man ihn hörte, war er einer unter Gleichen gewesen, und die unglückliche Rolle, in der sie ihn in ihrer Erinnerung sah, hatte es nie gegeben. Es war seltsam, so als hätte er seine Kindheit auf der anderen Seite eines geschnitzten Wandschirms durchlebt, sich selbst zurechtgelegt, was was bedeutete, und nur das gesehen, was er hatte sehen wollen. Qinnitan mußte sich mehrmals auf die Zunge beißen, wenn der Drang, die Dinge richtigzustellen, übermächtig wurde. Irgend etwas an Jeddin, an seiner Art zu reden, gab ihr das Gefühl, ihm jetzt zu sagen, daß auch nur ein winziger Teil seiner Erinnerungen falsch sei, wäre auch nichts anderes als das, was ihre Brüder damals getan hatten, wenn sie ihn im Rennen von hinten schubsten, damit er schneller lief, als seine Beine konnten, und deshalb hinfiel.
    Die Erfrischungen kamen, und während die Diener Tee eingossen und Zuckerwerk auf Teller häuften, bemerkte Qinnitan, daß Luian Jeddin mit jenem gierigen Blick ansah, den sie normalerweise nur hatte, wenn so etwas wie Rosenwassergelee in ihr Schälchen gelöffelt wurde. Es erschien ihr seltsam: nicht daß Luian gerade Jeddin attraktiv fand — er war mehr als attraktiv, sein Körper so hart und wohlgeformt wie der einer Statue, sein Gesicht von einem Ernst, der ihm gut anstand, und edel geschnitten, mit der geraden, kräftigen Nase und den verblüffend grünen Augen unter den kräftigen Brauen — sondern daß eine wie Luian, die sich doch ansonsten mit einer Art verfrühtem Matronendasein eingerichtet zu haben schien und außerdem ihre einschlägigen Organe ja schon seit Jahren nicht mehr besaß, überhaupt noch solche Gefühle

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