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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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machten, diesen beiden mächtigen, steinernen Ringen, die den Midlanfels krönten? War nur er insgeheim überwältigt von dem lebhaften Treiben, das hier herrschte, von all den Menschen und Tieren, die zu den Toren herein- und hinausströmten, von den mächtigen Bauten der Königshalle und des Palasts, deren Dächer so viele Kamine zu haben schienen wie ein Wald Bäume? Wenn es nur ihm so ging, war ihm das unverständlich: Wie konnte man Tag um Tag am Fuß der prächtigen Jahreszeitentürme zubringen, von denen jeder seine eigene Form und Farbe hatte, und nicht stehenbleiben, um hinaufzustarren?
    Vielleicht, überlegte Vansen, war es ja anders, wenn man in eine solche Umgebung hineingeboren wurde. Möglich. Er war jetzt ein halbes Dutzend Jahre hier und immer noch weit davon entfernt, sich an die Größe und Lebhaftigkeit dieses Ortes zu gewöhnen. Man hatte ihm erzählt, Südmark sei nichts im Vergleich zu Tessis oder Syan oder dem riesigen, alten Stadtstaat Hierosol mit seinen zweimal zwanzig Toren, aber hier gab es Wunder genug für einen jungen Mann aus dem dunklen, einsamen Dalerstroy, wo Himmel und Erde die meiste Zeit niederdrückend naß waren und im Winter die Sonne kaum je über die Hügel emporzusteigen schien.
    Als hätte diese kalte Erinnerung es heraufbeschworen, drehte der Wind. Nadeln eisiger Seeluft durchdrangen jetzt selbst Vansens Waffenrock und Kettenhemd. Er schlug den schweren Gardemantel um sich, zwang sich, sich zu bewegen. Er hatte zu tun. Nur weil die königliche Familie und, wie es schien, der halbe Adel der Markenkönigreiche jenseits des Wassers auf Jagd waren, konnte er noch lange nicht den ganzen Nachmittag mit unnützen Gedanken verplempern.
    Das war ohnehin sein Fluch, jedenfalls hatte ihm seine Mutter einmal erklärt: »Du träumst zuviel, Junge. Unsereins bringt sich mit einem starken Rücken und einem verschlossenen Mund durchs Leben.« Seltsam, weil die Märchen, die sie ihm und seinen Schwestern an den langen Abenden erzählt hatte, wenn das eine kleine Feuer heruntergebrannt war, immer von cleveren jungen Männern handelten, die grausame Riesen oder Hexen besiegten und am Ende die Königstochter zur Frau gewannen. Aber bei Tag hatte sie ihren Kindern eingebleut: »Ihr werdet die Götter erzürnen, wenn ihr zuviel verlangt.«
    Sein vuttischer Vater war da verständnisvoller gewesen, jedenfalls manchmal. »Vergiß nicht, ich mußte von weither kommen, um dich zu finden«, hatte er Vansens Mutter gern erklärt. »Von den kalten, windigen Felsen mitten im Meer hierher an diesen wundervollen Ort. Manchmal muß ein Mann eben mehr wollen.«
    Damals hatte Ferras Vansen die Meinung des alten Mannes nicht ganz geteilt, schon gar nicht, was diesen Ort anging — die Kate im feuchtgrünen Schatten der Hügel, wo über die Hälfte des Jahres Wasser von den Bäumen zu tropfen schien, war für ihn kein Traumziel, sondern ein Ort, dem es zu entkommen galt —, aber es war schön gewesen, seinen Vater, einen ehemaligen Seemann, der von Natur oder kraft Gewohnheit ein wortkarger Mensch war, von etwas anderem reden zu hören als von irgendwelchen Pflichten, die der junge Ferras vergessen hatte.
    Und dann hatte Vansen seiner Mutter das Gegenteil bewiesen, denn er war mit nichts hier in die Stadt gekommen, und jetzt stand er hier oben, als Hauptmann der königlichen Garde. Die größte Festung des Nordens lag zu seinen Füßen und die Sicherheit der königlichen Familie in seiner Hand. Auf eine solche Leistung wäre doch jeder stolz, selbst jemand von weit höherer Geburt.
    Doch im Herzen wußte Ferras, daß seine Mutter recht gehabt hatte. Er träumte immer noch zuviel, und — was noch schlimmer und verwerflicher war — er träumte von den falschen Dingen.
    »Der ist wie ein Falke«, erklärte ein Soldat im Wachhaus am Palast seinem Kameraden leise, aber doch nicht so leise, daß Vansen, der sich gerade wieder entfernen wollte, es nicht gehört hätte. »Man kann sich keinen Moment ausruhen, so plötzlich stößt er auf einen herab.« Dabei hatte Vansen die beiden nicht einmal bestraft, als er sie mit abgelegtem Harnisch beim Würfelspiel ertappt hatte, aber er hatte seinen Ärger deutlich kundgetan.
    Vansen ging wieder zurück. Die beiden Wachen sahen schuldbewußt und verdrossen auf. »Das nächste Mal könnte es Graf Brone sein, und dann wärt ihr jetzt in Ketten auf dem Weg ins Verlies. Denkt mal drüber nach, ihr Burschen.« Diesmal vernahm er kein Flüstern, als er ging.
    Sie können einen

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