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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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irgend etwas Schreckliches getan, wenn ich auch nicht wußte, was. Ich rechnete halb damit, daß er wieder versuchen würde, mich umzubringen, oder daß er mich in den Kerker werfen und in einer Zelle verrotten lassen würde. Aber statt dessen brach er in Tränen aus, ich schwör's. Er schloß mich in die Arme, zog mich an sich und küßte mich auf den Kopf und weinte dabei so heftig, daß mein Haar ganz naß wurde. Er tat mir furchtbar weh, weil er die ganze Zeit meinen Arm drückte, den ich in einer Schlinge trug. Sobald ich keine Angst mehr vor ihm hatte, haßte ich ihn. Wenn ich ihn in dem Moment hätte töten können, hätte ich's getan.«
    »Barrick!«
    »Du wolltest die Wahrheit, Briony. So sieht sie nun mal aus.« Er entwand sich jetzt ihren Armen. »Er sagte, er habe etwas Schreckliches getan, und flehte mich an, ihm zu verzeihen. Ich dachte, mit dem Schrecklichen meinte er, daß er mich gejagt hatte, bis ich die Treppe hinuntergefallen war und mir den Arm so zerschmettert hatte, daß ich nie wieder spielen, reiten und Bogen schießen können würde wie die anderen Jungen, aber als er mich immer weiter umklammerte und auf mich einredete, wurde mir klar, daß das Schreckliche darin bestand, daß er mich überhaupt gezeugt hatte.«
    »Was?«
    »Sei still und hör zu!« sagte er grimmig. »Vater hat eine Geisteskrankheit. Sie setzte ein, als er ein junger Mann war — zuerst in Form von schrecklichen Träumen, später dann als ein Zustand ungeheurer Unruhe und maßlosen Zorns, der in den Nächten, in denen er über ihn kam, so stark wurde, daß er nichts dagegen tun konnte. Er hat diese Krankheit, und einer seiner Onkel hatte sie auch. Es ist ein Familienfluch. Er erklärte mir, bei ihm sei die Krankheit inzwischen so heftig, daß er, obwohl sie manchmal monatelang ganz ausbleibe, in den Nächten, da er sie wieder nahen fühle, nichts anderes tun könne, als sich irgendwo einzuschließen und ganz allein zu wüten und zu toben. Dabei hatte ich ihn überrascht.«
    »Ein Familienfluch ...?«
    Er sagte mit einem bitteren Lächeln: »Keine Angst. Du hast die Krankheit nicht geerbt und Kendrick auch nicht. Ihr seid die Glückskinder — ihr Blondhaarigen. Vater erklärte mir, er habe die Familiengeschichte der Eddons genau studiert und keine Spur der Krankheit bei irgendwelchen blonden Kindern gefunden. Warum, wissen nur die Götter. Ihr seid die Goldkinder — in mehrfacher Hinsicht.«
    »Aber du hast ...« Plötzlich verstand sie. Wieder war es wie ein harter Schlag. »Oh, Barrick, du hast Angst, daß du das auch kriegen könntest?«
    »Daß ich es kriegen könnte? Nein, Schwesterherz, ich habe es bereits. Bei mir haben die Träume noch früher angefangen als bei Vater.«
    »Du hattest das Fieber ...!«
    »Schon lange vor dem Fieber.« Er atmete zittrig aus. »Obwohl sie seither noch schlimmer geworden sind. Ich wache nachts auf, in kaltem Schweiß, und denke nur ans Töten, an Blut. Und seit dem Fieber, da ... sehe ich auch Sachen. Ob ich wache oder schlafe, das macht fast keinen Unterschied. Ich werde beobachtet. Das Haus ist voller Schatten.«
    Sie war wie betäubt, hilflos. Sie hatte sich ihm nie so fern gefühlt, und für Briony war das ein schockierendes, schmerzhaftes Gefühl, als ob man ihr einen Teil ihres eigenen Körpers abgerissen hätte. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll — das ist alles so seltsam! Aber ... aber selbst wenn Vater eine ... eine Geisteskrankheit hat, hat er es doch geschafft, ein guter Mensch und ein liebevoller Vater zu sein. Vielleicht machst du dir ja zu viele ...«
    Wieder fiel er ihr ins Wort. »Ein liebevoller Vater, der mich die Treppe hinuntergestoßen hat. Ein liebevoller Vater, der mir gesagt hat, er hätte mich nie zeugen dürfen.« Sein Gesicht war steinern. »Du hast mir nicht richtig zugehört. Bei mir hat es früh angefangen. Bei mir wird es nicht so milde verlaufen wie bei Vater — ein paar Tage im Jahr, an denen man sich vom Rest der Menschheit wegsperren muß. Das meint er in seinem Brief, verstehst du jetzt? Daß er keinen schlimmen Anfall mehr gehabt hat, seit er in Gefangenschaft ist. Es hat nichts mit Scherzen zu tun, er redet mit mir über etwas Häßliches, das wir beide gemeinsam haben — unser verdorbenes Blut. Aber gegen meine Krankheit wird sich seine milde ausnehmen. Meine wird immer stärker und stärker werden, bis euch nichts anderes bleibt, als mich in einen Käfig zu sperren wie ein wildes Tier — oder mich zu töten.«
    »Barrick!«
    »Geh,

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